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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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in der Production von allerlei politischem Gallimathias, bald ergötzlichen,
bald pikanten, bald schaurigen Genres, unbestritten den ersten Rang ein.
Andrerseits gefällt sich die "deutsche Gründlichkeit" in einer spaltenlangen,
meist rein mechanischen, nicht selten auch ganz sinnlosen Aneinanderreihung
französischer Journalstimmen. Mit vollem Recht kann von unserer Presse in
dieser Beziehung knappere und bessere Arbeit verlangt werden. Sonst aber
haben wir gar keine Veranlassung, uns wegen eines Uebermaßes an Wissen
über Frankreich Vorwürfe zu machen; wie unsere Nachbarn über uns, so
sind auch wir über sie voll verkehrter Anschauungen, voller Vorurtheile.

Wer das oben genannte Buch zur Hand nimmt, wird sich, wenn er
ehrlich gegen sich selbst ist, von der Wahrheit dieser Behauptung leicht über¬
zeugen. Selten ist ein Volk von dem Angehörigen einer anderen Nation mit
so viel Sachkenntniß und, was unmittelbar nach dem furchtbaren Kriege
noch mehr sagen will, mit so viel Unparteilichkeit geschildert worden. Ein
jahrzehntelanger Aufenthalt in den verschiedensten Theilen Frankreichs, per¬
sönliche Bekanntschaft mit hervorragenden literarischen und politischen Größen
des Landes, ja eigene Theilnahme an der französischen Publicistik in der
guten Absicht, den Franzosen das Verständniß für deutsche Staatseinrich¬
tungen zu öffnen, befähigten Hillebrand wie keinen Andern, an die Aufgabe,
welche er sich mit dem vorliegenden Werke gestellt, heranzutreten. Nicht ge¬
nug anzuerkennen ist, daß die tausend genußreichen Stunden, welche ihm die
französische Gastfreundschaft gewährt, ihm nicht den Blick getrübt haben ge¬
genüber den Fehlern des Volkes, und daß er andererseits in seinem Urtheile
über die Gebrechen des eigenen Vaterlandes sich absolut frei hält von jenem
bösen Tone, der seit Börne und Heine in der deutschen Colonie von Paris
nur zu lange üblich gewesen. Ohne der internationalen Wahrheitsliebe Ein¬
trag zu thun, beleuchtet er sie, möchten wir sagen, mit jener Scheu, mit wel¬
cher der Sohn von den Schwächen des Vaters spricht. Kurz, es weht ein
edler, tiefernster Geist durch das ganze Buch, und eine leicht fließende Sprache,
eine stets fesselnde, nicht selten mit überraschenden Apercus durchwobene
Darstellung tragen das Ihrige dazu bei, seine öeetüre zu einem wirklichen
Genuß zu machen.

Am dürftigsten ist unzweifelhaft unsere Kenntniß des Privatlebens der
Franzosen bestellt. Mit doppeltem Interesse lesen wir daher den ersten Ab¬
schnitt, welcher Sitte und Gesellschaft behandelt. In Deutschland ist
die Vorstellung verbreitet, als besäßen wir ein ganz einzig dastehendes, wahr¬
haft mustergültiges Familienleben. Und doch sind die Angehörigen des fran¬
zösischen Hauses zu einem ungleich festeren Kreise zusammengeschlossen. Das
abendliche Wirthshausgehen des Vaters ist unbekannt; mit außerordentlicher
Zärtlichkeit widmen sich die Eltern der Pflege und Erziehung der Kinder,


Grenzboten III. 187^. 7

in der Production von allerlei politischem Gallimathias, bald ergötzlichen,
bald pikanten, bald schaurigen Genres, unbestritten den ersten Rang ein.
Andrerseits gefällt sich die „deutsche Gründlichkeit" in einer spaltenlangen,
meist rein mechanischen, nicht selten auch ganz sinnlosen Aneinanderreihung
französischer Journalstimmen. Mit vollem Recht kann von unserer Presse in
dieser Beziehung knappere und bessere Arbeit verlangt werden. Sonst aber
haben wir gar keine Veranlassung, uns wegen eines Uebermaßes an Wissen
über Frankreich Vorwürfe zu machen; wie unsere Nachbarn über uns, so
sind auch wir über sie voll verkehrter Anschauungen, voller Vorurtheile.

Wer das oben genannte Buch zur Hand nimmt, wird sich, wenn er
ehrlich gegen sich selbst ist, von der Wahrheit dieser Behauptung leicht über¬
zeugen. Selten ist ein Volk von dem Angehörigen einer anderen Nation mit
so viel Sachkenntniß und, was unmittelbar nach dem furchtbaren Kriege
noch mehr sagen will, mit so viel Unparteilichkeit geschildert worden. Ein
jahrzehntelanger Aufenthalt in den verschiedensten Theilen Frankreichs, per¬
sönliche Bekanntschaft mit hervorragenden literarischen und politischen Größen
des Landes, ja eigene Theilnahme an der französischen Publicistik in der
guten Absicht, den Franzosen das Verständniß für deutsche Staatseinrich¬
tungen zu öffnen, befähigten Hillebrand wie keinen Andern, an die Aufgabe,
welche er sich mit dem vorliegenden Werke gestellt, heranzutreten. Nicht ge¬
nug anzuerkennen ist, daß die tausend genußreichen Stunden, welche ihm die
französische Gastfreundschaft gewährt, ihm nicht den Blick getrübt haben ge¬
genüber den Fehlern des Volkes, und daß er andererseits in seinem Urtheile
über die Gebrechen des eigenen Vaterlandes sich absolut frei hält von jenem
bösen Tone, der seit Börne und Heine in der deutschen Colonie von Paris
nur zu lange üblich gewesen. Ohne der internationalen Wahrheitsliebe Ein¬
trag zu thun, beleuchtet er sie, möchten wir sagen, mit jener Scheu, mit wel¬
cher der Sohn von den Schwächen des Vaters spricht. Kurz, es weht ein
edler, tiefernster Geist durch das ganze Buch, und eine leicht fließende Sprache,
eine stets fesselnde, nicht selten mit überraschenden Apercus durchwobene
Darstellung tragen das Ihrige dazu bei, seine öeetüre zu einem wirklichen
Genuß zu machen.

Am dürftigsten ist unzweifelhaft unsere Kenntniß des Privatlebens der
Franzosen bestellt. Mit doppeltem Interesse lesen wir daher den ersten Ab¬
schnitt, welcher Sitte und Gesellschaft behandelt. In Deutschland ist
die Vorstellung verbreitet, als besäßen wir ein ganz einzig dastehendes, wahr¬
haft mustergültiges Familienleben. Und doch sind die Angehörigen des fran¬
zösischen Hauses zu einem ungleich festeren Kreise zusammengeschlossen. Das
abendliche Wirthshausgehen des Vaters ist unbekannt; mit außerordentlicher
Zärtlichkeit widmen sich die Eltern der Pflege und Erziehung der Kinder,


Grenzboten III. 187^. 7
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/57>, abgerufen am 05.02.2025.