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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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dies auch der Fall ist, so muß sie doch bei jedem Vorgang wenigstens die¬
jenigen Erscheinungen gleich vollständig zeigen, aus denen der Vorgang zu¬
sammengesetzt ist, Sie kann wohl die Theile der Vorgänge, aber nicht die
Theile der Theile nach einander zeigen. Dies vermag nur die Phantasie,
wenn sie allein waltet. Walküre, durch die Lüfte brausend, erschlagene Krie¬
ger tragend, deren todte Glieder über die Götterrosse herabhängen -- man
sollte denken, es sei unwidersprechlich. daß dergleichen nur die innere Phan¬
tasie anschauen kann. Einen Maler, der dergleichen malen wollte, würde alle
Welt für unverständig erklären. Und nun soll es gar plastisch auf der Bühne
dargestellt werden! Es mag allerdings sein, daß Wagner dafür an ganz an¬
dere als an die gewöhnlichen scenischen Darstellungsmittel, daß er an Nebel¬
bilder oder dergleichen denkt. Das allerbedenklichste ist aber der Drache, dessen
Riesenmuskeln wohl nicht anders als mit Pappe zur Anschauung gebracht
werden können. Wer fürchtet sich aber vor Pappe, und wessen Phantasie ver¬
mag noch der poetischen Anregung zu gehorchen, wenn er leibhafte Pappe vor
sich hat! Keinen Drachen vor sich haben und einen wirklichen vorstellen, das
leistet die Phantasie. Aber das Wunder, einen Drachen von Pappe in einen
wirklichen zu verwandeln geht über ihre Macht. Wie sich der singende Drache
dem Gehör vorstellen wird, vermögen wir nicht zu ahnen. Gesang durch ein
Sprachrohr scheint wohl akustische, aber keine ästhetische Möglichkeit. Und
schließlich ein Heldensprung, wie der des Siegfried, wodurch er dem Stoß
des Drachen zuvorkommt, er macht wohl auf die allein wirkende Phantasie
einen großen Eindruck, welche sich vorstellt, was dazu gehört, die Bewegung
eines Riesenthieres an Schnelle zu übertreffen -- aber dieser Sprung gesehen,
erreicht nicht die Phantasie, lahmt sie vielmehr, auch wenn er mit vollendeter
Gymnastik ausgeführt würde, was doch wohl nicht jedes Sängers oder Dar¬
stellers Sache ist.

Um den Widerspruch der Phantasie und der sinnlichen Darstellung zu
zeigen, den Wagner's Nibelungentetralogie so unbedenklich herausfordert, finden
wir noch ein Beispiel ganz anderer Art, als die vorangehenden. In dem
Vorspiel zu der "Götterdämmerung" erblicken wir die drei Nornen mit dem
goldenen Seil, das zusammengewebt ist aus den Schicksalsfaden der Welt¬
kräfte, der Götter und Helden. Die Nornen werfen sich das Seil abwechselnd
zu und jede weissagt, seine Fäden lösend. Ein wunderschönes Bild für die
Phantasie, durch die Hereinziehung der sinnlichen Anschauung aber glanzlos
zu Boden sinkend. Die Phantasie stellt sich das Seil von riesiger Länge und
Umfang und doch nicht als unform vor, sie denkt sich die Nornen als er¬
habene Frauengestalten, nachdem sie sich mit dem Seil beschäftigt hat, und
braucht, bei dem Seile nur noch mit unbestimmter Vorstellung verweilend,
die Nornen nicht als Riesinnen vor sich zu sehen. Wer aber glaubt wohl,


dies auch der Fall ist, so muß sie doch bei jedem Vorgang wenigstens die¬
jenigen Erscheinungen gleich vollständig zeigen, aus denen der Vorgang zu¬
sammengesetzt ist, Sie kann wohl die Theile der Vorgänge, aber nicht die
Theile der Theile nach einander zeigen. Dies vermag nur die Phantasie,
wenn sie allein waltet. Walküre, durch die Lüfte brausend, erschlagene Krie¬
ger tragend, deren todte Glieder über die Götterrosse herabhängen — man
sollte denken, es sei unwidersprechlich. daß dergleichen nur die innere Phan¬
tasie anschauen kann. Einen Maler, der dergleichen malen wollte, würde alle
Welt für unverständig erklären. Und nun soll es gar plastisch auf der Bühne
dargestellt werden! Es mag allerdings sein, daß Wagner dafür an ganz an¬
dere als an die gewöhnlichen scenischen Darstellungsmittel, daß er an Nebel¬
bilder oder dergleichen denkt. Das allerbedenklichste ist aber der Drache, dessen
Riesenmuskeln wohl nicht anders als mit Pappe zur Anschauung gebracht
werden können. Wer fürchtet sich aber vor Pappe, und wessen Phantasie ver¬
mag noch der poetischen Anregung zu gehorchen, wenn er leibhafte Pappe vor
sich hat! Keinen Drachen vor sich haben und einen wirklichen vorstellen, das
leistet die Phantasie. Aber das Wunder, einen Drachen von Pappe in einen
wirklichen zu verwandeln geht über ihre Macht. Wie sich der singende Drache
dem Gehör vorstellen wird, vermögen wir nicht zu ahnen. Gesang durch ein
Sprachrohr scheint wohl akustische, aber keine ästhetische Möglichkeit. Und
schließlich ein Heldensprung, wie der des Siegfried, wodurch er dem Stoß
des Drachen zuvorkommt, er macht wohl auf die allein wirkende Phantasie
einen großen Eindruck, welche sich vorstellt, was dazu gehört, die Bewegung
eines Riesenthieres an Schnelle zu übertreffen — aber dieser Sprung gesehen,
erreicht nicht die Phantasie, lahmt sie vielmehr, auch wenn er mit vollendeter
Gymnastik ausgeführt würde, was doch wohl nicht jedes Sängers oder Dar¬
stellers Sache ist.

Um den Widerspruch der Phantasie und der sinnlichen Darstellung zu
zeigen, den Wagner's Nibelungentetralogie so unbedenklich herausfordert, finden
wir noch ein Beispiel ganz anderer Art, als die vorangehenden. In dem
Vorspiel zu der „Götterdämmerung" erblicken wir die drei Nornen mit dem
goldenen Seil, das zusammengewebt ist aus den Schicksalsfaden der Welt¬
kräfte, der Götter und Helden. Die Nornen werfen sich das Seil abwechselnd
zu und jede weissagt, seine Fäden lösend. Ein wunderschönes Bild für die
Phantasie, durch die Hereinziehung der sinnlichen Anschauung aber glanzlos
zu Boden sinkend. Die Phantasie stellt sich das Seil von riesiger Länge und
Umfang und doch nicht als unform vor, sie denkt sich die Nornen als er¬
habene Frauengestalten, nachdem sie sich mit dem Seil beschäftigt hat, und
braucht, bei dem Seile nur noch mit unbestimmter Vorstellung verweilend,
die Nornen nicht als Riesinnen vor sich zu sehen. Wer aber glaubt wohl,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/506>, abgerufen am 06.02.2025.