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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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daß das goldene Seil, das er mit sinnlichen Augen in den Hän¬
den wirklicher Gestalten sieht, die Fäden des Weltschicksals ent¬
halte! Der ganze Vergleich, der schon den Griechen geläufig war, die Einheit
des individuellen Schicksalslauses unter einem Faden vorzustellen, den die
Parzen je eine auslösen, fortspinnen und abschneiden, erlaubt keine sinnliche
Darstellung. Die Parzen sind wohl oft genug abgebildet worden, aber nie¬
mals hat der feine Kunstsinn der Griechen der Phantasie zugemuthet, gleich¬
zeitig an ein bestimmtes Schicksal zu denken. Wagner aber verlangt, daß
wir in dem goldenen Seil mit unsern sinnlichen Augen die Geschicke sehen
sollen, die sich als menschlich-göttliche Vorgänge darauf vor demselben Auge
erfüllen. Das ist eine Unmöglichkeit. Das sichtbare Seil beleidigt die Phan¬
tasie, die sich leicht durch den Ausreiz des Lachens rächt, wenn die Sinne ihr
Reich usurpiren sollen, dessen sie allein zu walten fähig ist.

Wir vermehren diese Beispiele nicht und deuten nur noch unsere Besorg-
niß an, wie der an sich poetisch schöne Schluß der Tetralogie, Brünn-
hildens Sprung mit dem Götterroß in den brennenden Scheiterhaufen,
den Sinnen glaubhaft vorgeführt werden soll, ohne die Phantasie zu ver¬
letzen.

Es scheint undenkbar, daß bei so energischem Nachsinnen über die Be¬
dingungen und Wirkungen der Kunst, wie Niemand es Wagner abstreiten
kann, hier ein bloßer Irrthum vorliegen sollte. Wir müssen annehmen, daß
er auf die Kraft besonderer Darstellungsmittel und auf den willigeren Gehor¬
sam der Phantasie unter dem Einfluß einer von allen Seiten festlich erregten
Stimmung rechnet. Auch unter diesen beiden Voraussetzungen lassen sich
die Wagnisse nur aus der unüberwindlichen Sympathie für den Stoff erklä"
ren, dessen poetisch dramatische Natur ohne dieselben der Bühne und damit
der höchsten Lebendigkeit des dramatischen Kunstwerkes schien ermangeln zu
müssen. Ob dieser Schein ganz richtig war, darauf kommen wir noch zu
sprechen, wenn wir in einem letzten Artikel die Möglichkeit der musikalischen
Gestaltung in Erwägung ziehen.

Aus einer Zeitungsmittheilung der letzten Tage ersehen wir, daß der
Ausführung des Bühnenfestspiels noch immer Schwierigkeiten entgegenstehen,
und daß namentlich die Geldmittel noch nicht vollständig beschafft sind. Wir
bekennen, daß wir die größte Genugthuung empfinden würden, wenn unsere
Artikel etwas dazu beitragen könnten, die Theilnahme für das merkwürdige,
der dramatischen Kunst die bedeutsamsten Belehrungen in Aussicht stellende
Unternehmen zu verbreiten. Die seltene, einem idealen Zweck gewidmete Energie
des Dichters, in Verbindung mit der unleugbaren Schönheit seines Werkes,
würde allein schon eine ausgebreitetere Theilnahme wünschen lassen, als bis
Felix Cain. jetzt hervorgetreten zu sein scheint.




daß das goldene Seil, das er mit sinnlichen Augen in den Hän¬
den wirklicher Gestalten sieht, die Fäden des Weltschicksals ent¬
halte! Der ganze Vergleich, der schon den Griechen geläufig war, die Einheit
des individuellen Schicksalslauses unter einem Faden vorzustellen, den die
Parzen je eine auslösen, fortspinnen und abschneiden, erlaubt keine sinnliche
Darstellung. Die Parzen sind wohl oft genug abgebildet worden, aber nie¬
mals hat der feine Kunstsinn der Griechen der Phantasie zugemuthet, gleich¬
zeitig an ein bestimmtes Schicksal zu denken. Wagner aber verlangt, daß
wir in dem goldenen Seil mit unsern sinnlichen Augen die Geschicke sehen
sollen, die sich als menschlich-göttliche Vorgänge darauf vor demselben Auge
erfüllen. Das ist eine Unmöglichkeit. Das sichtbare Seil beleidigt die Phan¬
tasie, die sich leicht durch den Ausreiz des Lachens rächt, wenn die Sinne ihr
Reich usurpiren sollen, dessen sie allein zu walten fähig ist.

Wir vermehren diese Beispiele nicht und deuten nur noch unsere Besorg-
niß an, wie der an sich poetisch schöne Schluß der Tetralogie, Brünn-
hildens Sprung mit dem Götterroß in den brennenden Scheiterhaufen,
den Sinnen glaubhaft vorgeführt werden soll, ohne die Phantasie zu ver¬
letzen.

Es scheint undenkbar, daß bei so energischem Nachsinnen über die Be¬
dingungen und Wirkungen der Kunst, wie Niemand es Wagner abstreiten
kann, hier ein bloßer Irrthum vorliegen sollte. Wir müssen annehmen, daß
er auf die Kraft besonderer Darstellungsmittel und auf den willigeren Gehor¬
sam der Phantasie unter dem Einfluß einer von allen Seiten festlich erregten
Stimmung rechnet. Auch unter diesen beiden Voraussetzungen lassen sich
die Wagnisse nur aus der unüberwindlichen Sympathie für den Stoff erklä«
ren, dessen poetisch dramatische Natur ohne dieselben der Bühne und damit
der höchsten Lebendigkeit des dramatischen Kunstwerkes schien ermangeln zu
müssen. Ob dieser Schein ganz richtig war, darauf kommen wir noch zu
sprechen, wenn wir in einem letzten Artikel die Möglichkeit der musikalischen
Gestaltung in Erwägung ziehen.

Aus einer Zeitungsmittheilung der letzten Tage ersehen wir, daß der
Ausführung des Bühnenfestspiels noch immer Schwierigkeiten entgegenstehen,
und daß namentlich die Geldmittel noch nicht vollständig beschafft sind. Wir
bekennen, daß wir die größte Genugthuung empfinden würden, wenn unsere
Artikel etwas dazu beitragen könnten, die Theilnahme für das merkwürdige,
der dramatischen Kunst die bedeutsamsten Belehrungen in Aussicht stellende
Unternehmen zu verbreiten. Die seltene, einem idealen Zweck gewidmete Energie
des Dichters, in Verbindung mit der unleugbaren Schönheit seines Werkes,
würde allein schon eine ausgebreitetere Theilnahme wünschen lassen, als bis
Felix Cain. jetzt hervorgetreten zu sein scheint.




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[0507] daß das goldene Seil, das er mit sinnlichen Augen in den Hän¬ den wirklicher Gestalten sieht, die Fäden des Weltschicksals ent¬ halte! Der ganze Vergleich, der schon den Griechen geläufig war, die Einheit des individuellen Schicksalslauses unter einem Faden vorzustellen, den die Parzen je eine auslösen, fortspinnen und abschneiden, erlaubt keine sinnliche Darstellung. Die Parzen sind wohl oft genug abgebildet worden, aber nie¬ mals hat der feine Kunstsinn der Griechen der Phantasie zugemuthet, gleich¬ zeitig an ein bestimmtes Schicksal zu denken. Wagner aber verlangt, daß wir in dem goldenen Seil mit unsern sinnlichen Augen die Geschicke sehen sollen, die sich als menschlich-göttliche Vorgänge darauf vor demselben Auge erfüllen. Das ist eine Unmöglichkeit. Das sichtbare Seil beleidigt die Phan¬ tasie, die sich leicht durch den Ausreiz des Lachens rächt, wenn die Sinne ihr Reich usurpiren sollen, dessen sie allein zu walten fähig ist. Wir vermehren diese Beispiele nicht und deuten nur noch unsere Besorg- niß an, wie der an sich poetisch schöne Schluß der Tetralogie, Brünn- hildens Sprung mit dem Götterroß in den brennenden Scheiterhaufen, den Sinnen glaubhaft vorgeführt werden soll, ohne die Phantasie zu ver¬ letzen. Es scheint undenkbar, daß bei so energischem Nachsinnen über die Be¬ dingungen und Wirkungen der Kunst, wie Niemand es Wagner abstreiten kann, hier ein bloßer Irrthum vorliegen sollte. Wir müssen annehmen, daß er auf die Kraft besonderer Darstellungsmittel und auf den willigeren Gehor¬ sam der Phantasie unter dem Einfluß einer von allen Seiten festlich erregten Stimmung rechnet. Auch unter diesen beiden Voraussetzungen lassen sich die Wagnisse nur aus der unüberwindlichen Sympathie für den Stoff erklä« ren, dessen poetisch dramatische Natur ohne dieselben der Bühne und damit der höchsten Lebendigkeit des dramatischen Kunstwerkes schien ermangeln zu müssen. Ob dieser Schein ganz richtig war, darauf kommen wir noch zu sprechen, wenn wir in einem letzten Artikel die Möglichkeit der musikalischen Gestaltung in Erwägung ziehen. Aus einer Zeitungsmittheilung der letzten Tage ersehen wir, daß der Ausführung des Bühnenfestspiels noch immer Schwierigkeiten entgegenstehen, und daß namentlich die Geldmittel noch nicht vollständig beschafft sind. Wir bekennen, daß wir die größte Genugthuung empfinden würden, wenn unsere Artikel etwas dazu beitragen könnten, die Theilnahme für das merkwürdige, der dramatischen Kunst die bedeutsamsten Belehrungen in Aussicht stellende Unternehmen zu verbreiten. Die seltene, einem idealen Zweck gewidmete Energie des Dichters, in Verbindung mit der unleugbaren Schönheit seines Werkes, würde allein schon eine ausgebreitetere Theilnahme wünschen lassen, als bis Felix Cain. jetzt hervorgetreten zu sein scheint.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/507>, abgerufen am 05.02.2025.