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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Stellung. Die Technik dieser Darstellung hat freilich in unseren Tagen einen
so erstaunlichen Grad von Leistungsfähigkeit erlangt, daß ihr jede Aufgabe
zumuthbar erscheint. Die Meinung über Wagner's Dramen wird bei Vielen
auf den ersten Anblick weniger dahin gehen, daß er der scenischen Technik Un¬
mögliches abverlangt, als vielmehr dahin, daß er das Allerschwierigste des
Effektes wegen gesucht habe. Diese Meinung hält einer Vorurtheilsfreien
Prüfung indeß nicht stand. Könnte man dem Dichter bei dem hohen Ge¬
halt seines Werkes überhaupt zutrauen, daß es ihm um Spektakel zu thun
gewesen, so hätte er selbst in diesem Stoff Gelegenheiten genug gefunden, die
er hat vorübergehen lassen, um minder schwierige und ebenso wirksame oder
noch wirksamere Spektakelwirkungen zu erreichen, als er jetzt der Jnscenirung
auferlegt. Eine unbefangene verständnißfähige Betrachtung kommt bald zu
der Ueberzeugung, daß die sinnlichen Vorgänge, welche der Jnscenirung so un¬
erhörte Aufgaben stellen, aus der poetischen Natur des Stoffes fließen, welchen
der Dichter um seiner poetischen Schönheit willen aufsuchte, und getrieben
ward, dramatisch zu gestalten, nicht aber um der Gelegenheit zu scenischen
Wundern willen. Diese Wunder sind ein sekundäres Anhängsel des Stoffes.

So weit wäre alles ganz gut, und gern treten wir gegen den Vorwurf
äußerlichster Maschinen- und Dekorationseffektsucht als Anwalt des Dichters
auf. Aber ein weit tiefer greifendes Bedenken läßt sich nicht abweisen. Was
hier der scenischen Darstellung zugemuthet worden, das wird dieselbe mit den
heutigen Mitteln zu Wege bringen. Unter der Leitung des Dichters, der
ein umfassend bühnenorganisatorisches Genie zu sein scheint, wird sie vielleicht
noch mehr leisten als je bisher und einer wahrhaft poetischen Wirkung zu¬
streben. Einzelne, wir müssen sagen viele Vorgänge der Wagner'schen Nibe"
belungen-Tetralogie sind aber derart, daß sie, als sinnliche Bühnenerscheinung
gedacht, die Wirkung der Dichtung geradezu tödten, gleichviel, ob wir die Aus¬
führung als die vollkommenste denken. Wir treffen hier auf den merkwür¬
digen, für die Kunst so wichtigen und doch, trotz Lessing's epochemachender
Anregung, noch nicht hinlänglich beachteten Unterschied zwischen Anschauung
mittelst der Sinne und mittelst der Phantasie allein. Zuerst müssen wir den
Gegensatz ganz richtig stellen. Es giebt keine Anschauung durch die Sinne
allein. Alle sogenannte sinnliche Anschauung entsteht durch das Zusammen¬
wirken der Sinne, der Phantasie und des logischen Urtheils. Im Gegensatz
zu dieser sinnlich genannten Anschauung, zu der aber die Sinne nur den
form- und zusammenhanglosen Stoff liefern, giebt es eine andere Anschauung,
gewöhnlich und am bequemsten innere Anschauung genannt, in welcher die
Phantasie, aus der Erinnerung sinnlicher Eindrücke schöpfend, mit Hülfe des
logischen Urtheils, ohne gegenwärtigen Sinneseindruck die angeschaute Er¬
scheinung hervorbringt. Aus einem gegenwärtigen Sinneseindruck entsteht,


Stellung. Die Technik dieser Darstellung hat freilich in unseren Tagen einen
so erstaunlichen Grad von Leistungsfähigkeit erlangt, daß ihr jede Aufgabe
zumuthbar erscheint. Die Meinung über Wagner's Dramen wird bei Vielen
auf den ersten Anblick weniger dahin gehen, daß er der scenischen Technik Un¬
mögliches abverlangt, als vielmehr dahin, daß er das Allerschwierigste des
Effektes wegen gesucht habe. Diese Meinung hält einer Vorurtheilsfreien
Prüfung indeß nicht stand. Könnte man dem Dichter bei dem hohen Ge¬
halt seines Werkes überhaupt zutrauen, daß es ihm um Spektakel zu thun
gewesen, so hätte er selbst in diesem Stoff Gelegenheiten genug gefunden, die
er hat vorübergehen lassen, um minder schwierige und ebenso wirksame oder
noch wirksamere Spektakelwirkungen zu erreichen, als er jetzt der Jnscenirung
auferlegt. Eine unbefangene verständnißfähige Betrachtung kommt bald zu
der Ueberzeugung, daß die sinnlichen Vorgänge, welche der Jnscenirung so un¬
erhörte Aufgaben stellen, aus der poetischen Natur des Stoffes fließen, welchen
der Dichter um seiner poetischen Schönheit willen aufsuchte, und getrieben
ward, dramatisch zu gestalten, nicht aber um der Gelegenheit zu scenischen
Wundern willen. Diese Wunder sind ein sekundäres Anhängsel des Stoffes.

So weit wäre alles ganz gut, und gern treten wir gegen den Vorwurf
äußerlichster Maschinen- und Dekorationseffektsucht als Anwalt des Dichters
auf. Aber ein weit tiefer greifendes Bedenken läßt sich nicht abweisen. Was
hier der scenischen Darstellung zugemuthet worden, das wird dieselbe mit den
heutigen Mitteln zu Wege bringen. Unter der Leitung des Dichters, der
ein umfassend bühnenorganisatorisches Genie zu sein scheint, wird sie vielleicht
noch mehr leisten als je bisher und einer wahrhaft poetischen Wirkung zu¬
streben. Einzelne, wir müssen sagen viele Vorgänge der Wagner'schen Nibe»
belungen-Tetralogie sind aber derart, daß sie, als sinnliche Bühnenerscheinung
gedacht, die Wirkung der Dichtung geradezu tödten, gleichviel, ob wir die Aus¬
führung als die vollkommenste denken. Wir treffen hier auf den merkwür¬
digen, für die Kunst so wichtigen und doch, trotz Lessing's epochemachender
Anregung, noch nicht hinlänglich beachteten Unterschied zwischen Anschauung
mittelst der Sinne und mittelst der Phantasie allein. Zuerst müssen wir den
Gegensatz ganz richtig stellen. Es giebt keine Anschauung durch die Sinne
allein. Alle sogenannte sinnliche Anschauung entsteht durch das Zusammen¬
wirken der Sinne, der Phantasie und des logischen Urtheils. Im Gegensatz
zu dieser sinnlich genannten Anschauung, zu der aber die Sinne nur den
form- und zusammenhanglosen Stoff liefern, giebt es eine andere Anschauung,
gewöhnlich und am bequemsten innere Anschauung genannt, in welcher die
Phantasie, aus der Erinnerung sinnlicher Eindrücke schöpfend, mit Hülfe des
logischen Urtheils, ohne gegenwärtigen Sinneseindruck die angeschaute Er¬
scheinung hervorbringt. Aus einem gegenwärtigen Sinneseindruck entsteht,


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[0504] Stellung. Die Technik dieser Darstellung hat freilich in unseren Tagen einen so erstaunlichen Grad von Leistungsfähigkeit erlangt, daß ihr jede Aufgabe zumuthbar erscheint. Die Meinung über Wagner's Dramen wird bei Vielen auf den ersten Anblick weniger dahin gehen, daß er der scenischen Technik Un¬ mögliches abverlangt, als vielmehr dahin, daß er das Allerschwierigste des Effektes wegen gesucht habe. Diese Meinung hält einer Vorurtheilsfreien Prüfung indeß nicht stand. Könnte man dem Dichter bei dem hohen Ge¬ halt seines Werkes überhaupt zutrauen, daß es ihm um Spektakel zu thun gewesen, so hätte er selbst in diesem Stoff Gelegenheiten genug gefunden, die er hat vorübergehen lassen, um minder schwierige und ebenso wirksame oder noch wirksamere Spektakelwirkungen zu erreichen, als er jetzt der Jnscenirung auferlegt. Eine unbefangene verständnißfähige Betrachtung kommt bald zu der Ueberzeugung, daß die sinnlichen Vorgänge, welche der Jnscenirung so un¬ erhörte Aufgaben stellen, aus der poetischen Natur des Stoffes fließen, welchen der Dichter um seiner poetischen Schönheit willen aufsuchte, und getrieben ward, dramatisch zu gestalten, nicht aber um der Gelegenheit zu scenischen Wundern willen. Diese Wunder sind ein sekundäres Anhängsel des Stoffes. So weit wäre alles ganz gut, und gern treten wir gegen den Vorwurf äußerlichster Maschinen- und Dekorationseffektsucht als Anwalt des Dichters auf. Aber ein weit tiefer greifendes Bedenken läßt sich nicht abweisen. Was hier der scenischen Darstellung zugemuthet worden, das wird dieselbe mit den heutigen Mitteln zu Wege bringen. Unter der Leitung des Dichters, der ein umfassend bühnenorganisatorisches Genie zu sein scheint, wird sie vielleicht noch mehr leisten als je bisher und einer wahrhaft poetischen Wirkung zu¬ streben. Einzelne, wir müssen sagen viele Vorgänge der Wagner'schen Nibe» belungen-Tetralogie sind aber derart, daß sie, als sinnliche Bühnenerscheinung gedacht, die Wirkung der Dichtung geradezu tödten, gleichviel, ob wir die Aus¬ führung als die vollkommenste denken. Wir treffen hier auf den merkwür¬ digen, für die Kunst so wichtigen und doch, trotz Lessing's epochemachender Anregung, noch nicht hinlänglich beachteten Unterschied zwischen Anschauung mittelst der Sinne und mittelst der Phantasie allein. Zuerst müssen wir den Gegensatz ganz richtig stellen. Es giebt keine Anschauung durch die Sinne allein. Alle sogenannte sinnliche Anschauung entsteht durch das Zusammen¬ wirken der Sinne, der Phantasie und des logischen Urtheils. Im Gegensatz zu dieser sinnlich genannten Anschauung, zu der aber die Sinne nur den form- und zusammenhanglosen Stoff liefern, giebt es eine andere Anschauung, gewöhnlich und am bequemsten innere Anschauung genannt, in welcher die Phantasie, aus der Erinnerung sinnlicher Eindrücke schöpfend, mit Hülfe des logischen Urtheils, ohne gegenwärtigen Sinneseindruck die angeschaute Er¬ scheinung hervorbringt. Aus einem gegenwärtigen Sinneseindruck entsteht,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/504>, abgerufen am 05.02.2025.