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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Während nun in England die Vertrauensstellung, welche der Präsident
des Gerichtes einnimmt, es ermöglicht, daß die Geschworenen einfach darüber
entscheiden, ob der Angeklagte der doch oft ziemlich complicirt abgefaßten
Anklage schuldig sei, da die Charge direct darauf aufmerksam macht, auf
welche Punkte es nach Maßgabe der Verhandlungen noch allein ankommen
kann, sah man sich in Frankreich veranlaßt, die wesentlichen Punkte der
Anklage und diejenigen Modifikationen, welche ihr nach Ansicht des Gerich¬
tes -- denn das französische Recht gestattet hier dem Gerichte eine ziem¬
lich weitgehende Einmischung -- nach den Ergebnissen der mündlichen Ver¬
handlung zu Theil werden, in den Fragen, welche der Präsident (Namens
des Gerichts")) an die Jury stellt, zusammenzufassen. Zugleich aber suchte
man dabei den Gedanken zu verwirklichen, daß den Geschworenen nur die
Feststellung der Thatsachen zufallen müsse. Aus diesem Grunde sollen nach
dem Gesetze von 1791 die Geschworenen zunächst nach dem Factum an sich,
darauf nach der Absicht des Thäters (yuostion inteutioiuille) und endlich nach
der "Moralität" der Handlung befragt werden, welcher letztere etwas unklare
Begriff hauptsächlich auf die Rechtswidrigkeit der Handlung bezogen wurde.
Die Praxis mußte indeß sehr bald bemerken, daß in den Definitionen des
Strafgesetzbuches, in denen man anfangs nur die Angabe von Thatsachen er¬
blickt hatte, doch eine große Anzahl von Rechtsbegriffen enthalten sei. In¬
dem man daher diese letzteren in eine Reihe von thatsächlichen Umständen
nach Lage des einzelnen Falles aufzulösen versuchte und darauf dann beson¬
dere Fragen richtete, kam man einerseits nicht selten zu einer Unzahl von
Fragen -- in einzelnen Processen, freilich bei einer Mehrzahl von Angeklag¬
ten, zu mehreren taufenden -- durch welche die Geschworenen in Verwirrung
gesetzt und häufig zu Freisprechungen wider ihren Willen gebracht wurden,
zugleich aber der Anlaß zu einer großen Anzahl materiell ungerechtfertigter
Freisprechungen im Wege der Cassation gegeben wurde; denn, wenngleich die
Richter, welche bei den Verhandlungen zugegen gewesen waren, die festgestell¬
ten Thatsachen unter den fraglichen Begriff glaubten subsumiren zu können,
so brauchte dasselbe nicht der Fall zu sein bei dem Cassationshofe, der 'die
Verhandlungen nicht aus eigener Anschauung kannte, ja, als durchaus be¬
schränkt auf den Rechtspunkt, sie nicht berücksichtigen durfte, und daher leicht
zu der Ansicht gelangte, daß nicht unter allen, sondern nur unter gewissen,
nun eben nicht constatirten Umständen die festgestellten Thatsachen den fraglichen
Begriff der gesetzlichen Definition ausfüllten.

Diese Trennung von That- und Rechtsfrage beruht denn auch voll¬
ständig auf einem Irrthume. Erstens wird jeder Begriff, dessen ein Ge-



') Im Falle des Widerspruchs einer Partei entscheidet das Gericht.
Grenzboten III. 1873.33

Während nun in England die Vertrauensstellung, welche der Präsident
des Gerichtes einnimmt, es ermöglicht, daß die Geschworenen einfach darüber
entscheiden, ob der Angeklagte der doch oft ziemlich complicirt abgefaßten
Anklage schuldig sei, da die Charge direct darauf aufmerksam macht, auf
welche Punkte es nach Maßgabe der Verhandlungen noch allein ankommen
kann, sah man sich in Frankreich veranlaßt, die wesentlichen Punkte der
Anklage und diejenigen Modifikationen, welche ihr nach Ansicht des Gerich¬
tes — denn das französische Recht gestattet hier dem Gerichte eine ziem¬
lich weitgehende Einmischung — nach den Ergebnissen der mündlichen Ver¬
handlung zu Theil werden, in den Fragen, welche der Präsident (Namens
des Gerichts")) an die Jury stellt, zusammenzufassen. Zugleich aber suchte
man dabei den Gedanken zu verwirklichen, daß den Geschworenen nur die
Feststellung der Thatsachen zufallen müsse. Aus diesem Grunde sollen nach
dem Gesetze von 1791 die Geschworenen zunächst nach dem Factum an sich,
darauf nach der Absicht des Thäters (yuostion inteutioiuille) und endlich nach
der „Moralität" der Handlung befragt werden, welcher letztere etwas unklare
Begriff hauptsächlich auf die Rechtswidrigkeit der Handlung bezogen wurde.
Die Praxis mußte indeß sehr bald bemerken, daß in den Definitionen des
Strafgesetzbuches, in denen man anfangs nur die Angabe von Thatsachen er¬
blickt hatte, doch eine große Anzahl von Rechtsbegriffen enthalten sei. In¬
dem man daher diese letzteren in eine Reihe von thatsächlichen Umständen
nach Lage des einzelnen Falles aufzulösen versuchte und darauf dann beson¬
dere Fragen richtete, kam man einerseits nicht selten zu einer Unzahl von
Fragen — in einzelnen Processen, freilich bei einer Mehrzahl von Angeklag¬
ten, zu mehreren taufenden — durch welche die Geschworenen in Verwirrung
gesetzt und häufig zu Freisprechungen wider ihren Willen gebracht wurden,
zugleich aber der Anlaß zu einer großen Anzahl materiell ungerechtfertigter
Freisprechungen im Wege der Cassation gegeben wurde; denn, wenngleich die
Richter, welche bei den Verhandlungen zugegen gewesen waren, die festgestell¬
ten Thatsachen unter den fraglichen Begriff glaubten subsumiren zu können,
so brauchte dasselbe nicht der Fall zu sein bei dem Cassationshofe, der 'die
Verhandlungen nicht aus eigener Anschauung kannte, ja, als durchaus be¬
schränkt auf den Rechtspunkt, sie nicht berücksichtigen durfte, und daher leicht
zu der Ansicht gelangte, daß nicht unter allen, sondern nur unter gewissen,
nun eben nicht constatirten Umständen die festgestellten Thatsachen den fraglichen
Begriff der gesetzlichen Definition ausfüllten.

Diese Trennung von That- und Rechtsfrage beruht denn auch voll¬
ständig auf einem Irrthume. Erstens wird jeder Begriff, dessen ein Ge-



') Im Falle des Widerspruchs einer Partei entscheidet das Gericht.
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[0265] Während nun in England die Vertrauensstellung, welche der Präsident des Gerichtes einnimmt, es ermöglicht, daß die Geschworenen einfach darüber entscheiden, ob der Angeklagte der doch oft ziemlich complicirt abgefaßten Anklage schuldig sei, da die Charge direct darauf aufmerksam macht, auf welche Punkte es nach Maßgabe der Verhandlungen noch allein ankommen kann, sah man sich in Frankreich veranlaßt, die wesentlichen Punkte der Anklage und diejenigen Modifikationen, welche ihr nach Ansicht des Gerich¬ tes — denn das französische Recht gestattet hier dem Gerichte eine ziem¬ lich weitgehende Einmischung — nach den Ergebnissen der mündlichen Ver¬ handlung zu Theil werden, in den Fragen, welche der Präsident (Namens des Gerichts")) an die Jury stellt, zusammenzufassen. Zugleich aber suchte man dabei den Gedanken zu verwirklichen, daß den Geschworenen nur die Feststellung der Thatsachen zufallen müsse. Aus diesem Grunde sollen nach dem Gesetze von 1791 die Geschworenen zunächst nach dem Factum an sich, darauf nach der Absicht des Thäters (yuostion inteutioiuille) und endlich nach der „Moralität" der Handlung befragt werden, welcher letztere etwas unklare Begriff hauptsächlich auf die Rechtswidrigkeit der Handlung bezogen wurde. Die Praxis mußte indeß sehr bald bemerken, daß in den Definitionen des Strafgesetzbuches, in denen man anfangs nur die Angabe von Thatsachen er¬ blickt hatte, doch eine große Anzahl von Rechtsbegriffen enthalten sei. In¬ dem man daher diese letzteren in eine Reihe von thatsächlichen Umständen nach Lage des einzelnen Falles aufzulösen versuchte und darauf dann beson¬ dere Fragen richtete, kam man einerseits nicht selten zu einer Unzahl von Fragen — in einzelnen Processen, freilich bei einer Mehrzahl von Angeklag¬ ten, zu mehreren taufenden — durch welche die Geschworenen in Verwirrung gesetzt und häufig zu Freisprechungen wider ihren Willen gebracht wurden, zugleich aber der Anlaß zu einer großen Anzahl materiell ungerechtfertigter Freisprechungen im Wege der Cassation gegeben wurde; denn, wenngleich die Richter, welche bei den Verhandlungen zugegen gewesen waren, die festgestell¬ ten Thatsachen unter den fraglichen Begriff glaubten subsumiren zu können, so brauchte dasselbe nicht der Fall zu sein bei dem Cassationshofe, der 'die Verhandlungen nicht aus eigener Anschauung kannte, ja, als durchaus be¬ schränkt auf den Rechtspunkt, sie nicht berücksichtigen durfte, und daher leicht zu der Ansicht gelangte, daß nicht unter allen, sondern nur unter gewissen, nun eben nicht constatirten Umständen die festgestellten Thatsachen den fraglichen Begriff der gesetzlichen Definition ausfüllten. Diese Trennung von That- und Rechtsfrage beruht denn auch voll¬ ständig auf einem Irrthume. Erstens wird jeder Begriff, dessen ein Ge- ') Im Falle des Widerspruchs einer Partei entscheidet das Gericht. Grenzboten III. 1873.33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/265>, abgerufen am 06.02.2025.