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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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setz sich bedient, schon dadurch, daß das Gesetz dies thut, zu einem Rechtsbegriffe, ge¬
hörte er auch scheinbar noch so sehr lediglich dem gewöhnlichen Leben an: denn jeder
Begriff, der in einem Gesetze vorkommt, kann vollkommen richtig nur im Zu¬
sammenhange des Gesetzes, ja des Rechtssystems überhaupt aufgefaßt werden.
Nichts scheint z. B. mehr dem gewöhnlichen Leben anzugehören als der Be¬
griff der Nachtzeit. Allein wenn ein Gesetzbuch z. B. den unter gewissen
Umständen bei Nachtzeit begangenen Diebstahl als einen besonders strafbaren
qualificirt, so wird man sogleich vor die Frage gestellt: beginnt die Nachtzeit
mit dem Dunkelwerden oder mit dem Zeitpunkte, wo man zur Ruhe zu gehen
pflegt, und ist in letzter Beziehung die allgemeine Gewohnheit der Bewohner
etwa des Ortes oder die individuelle Gewohnheit der Bewohner des Hauses
maßgebend, in welchem gestohlen wurde. Kann man es ferner, z. B. noch
als ein "Erbrechen" im juristischen Sinne bezeichnen, wenn ein Schloß durch
einen nicht sehr starken Ruck an der Klinke geöffnet zu werden vermochte?
Es ist klar, daß dieses und Aehnliches nur durch Kenntniß des Zusammen¬
hanges des Gesetzes, ja zuweilen nur durch Zuhülfenahme selbst historischer
Nachforschung festzustellen ist. Zweitens aber stehen die factischen Vorgänge
des Lebens in ununterbrochenem Zusammenhange. Schon die Ausscheidung
der für das Urtheil in Betracht kommenden Umstände setzt daher voraus ein
rechtliches Urtheil, mindestens dahin, daß andere als die bezeichneten Umstände
rechtlich nicht in Betracht kommen können. Die Erzählung eines Borganges
ist noch nicht, wie Glaser sehr richtig bemerkt hat, die Photographie des-
selben, und auch die Photographie würde hier, da eben im Strafrechte die Ge¬
danken und Vorstellungen der handelnden Personen sehr wesentlich in Be¬
tracht kommen, nicht ausreichen. Um sich dies klar zu machen, braucht man
sich nur daran zu erinnern, daß Personen, die mit der rechtlichen Beurtheilung
der Sache nicht vertraut sind, wenn sie von einem juristischen Falle erzählen,
manche rechtlich wesentliche Punkte zu übergehen, unwesentliche mitzuerzählen
pflegen. Nach beiden Richtungen hin ist also eine absolute Trennung von
That- und Rechtsfrage unmöglich.

Davon ist man auch in Frankreich zurückgekommen. Der tüoäs Ä'iu-
Ktruetion eriwiiwUö läßt die Geschworenen, indem er die Formel, ob der
Angeklagte schuldig (cou,xg,d!o) sei, conform dem englischen "guiltx"
"not KuM?" zur sacramentellen, stets zu beobachtenden erhebt, daraus ant¬
worten :

"I/aeeuLL est-it evuMblL ä'avoir eomwis tel mem-tre, tel vol vu tel
ÄutrL erimv, o.pee toutes Jos eireonswllces eomxrisvs 6aus 1o r6sum6 ac
l'u,co ä'l>,<nuLÄtioii."

Hiernach hat sich die Praxis der Regel nach so gestaltet, daß die Ge¬
schworenen zwar nicht darnach gefragt werden, ob der Angeklagte des Mordes,


setz sich bedient, schon dadurch, daß das Gesetz dies thut, zu einem Rechtsbegriffe, ge¬
hörte er auch scheinbar noch so sehr lediglich dem gewöhnlichen Leben an: denn jeder
Begriff, der in einem Gesetze vorkommt, kann vollkommen richtig nur im Zu¬
sammenhange des Gesetzes, ja des Rechtssystems überhaupt aufgefaßt werden.
Nichts scheint z. B. mehr dem gewöhnlichen Leben anzugehören als der Be¬
griff der Nachtzeit. Allein wenn ein Gesetzbuch z. B. den unter gewissen
Umständen bei Nachtzeit begangenen Diebstahl als einen besonders strafbaren
qualificirt, so wird man sogleich vor die Frage gestellt: beginnt die Nachtzeit
mit dem Dunkelwerden oder mit dem Zeitpunkte, wo man zur Ruhe zu gehen
pflegt, und ist in letzter Beziehung die allgemeine Gewohnheit der Bewohner
etwa des Ortes oder die individuelle Gewohnheit der Bewohner des Hauses
maßgebend, in welchem gestohlen wurde. Kann man es ferner, z. B. noch
als ein „Erbrechen" im juristischen Sinne bezeichnen, wenn ein Schloß durch
einen nicht sehr starken Ruck an der Klinke geöffnet zu werden vermochte?
Es ist klar, daß dieses und Aehnliches nur durch Kenntniß des Zusammen¬
hanges des Gesetzes, ja zuweilen nur durch Zuhülfenahme selbst historischer
Nachforschung festzustellen ist. Zweitens aber stehen die factischen Vorgänge
des Lebens in ununterbrochenem Zusammenhange. Schon die Ausscheidung
der für das Urtheil in Betracht kommenden Umstände setzt daher voraus ein
rechtliches Urtheil, mindestens dahin, daß andere als die bezeichneten Umstände
rechtlich nicht in Betracht kommen können. Die Erzählung eines Borganges
ist noch nicht, wie Glaser sehr richtig bemerkt hat, die Photographie des-
selben, und auch die Photographie würde hier, da eben im Strafrechte die Ge¬
danken und Vorstellungen der handelnden Personen sehr wesentlich in Be¬
tracht kommen, nicht ausreichen. Um sich dies klar zu machen, braucht man
sich nur daran zu erinnern, daß Personen, die mit der rechtlichen Beurtheilung
der Sache nicht vertraut sind, wenn sie von einem juristischen Falle erzählen,
manche rechtlich wesentliche Punkte zu übergehen, unwesentliche mitzuerzählen
pflegen. Nach beiden Richtungen hin ist also eine absolute Trennung von
That- und Rechtsfrage unmöglich.

Davon ist man auch in Frankreich zurückgekommen. Der tüoäs Ä'iu-
Ktruetion eriwiiwUö läßt die Geschworenen, indem er die Formel, ob der
Angeklagte schuldig (cou,xg,d!o) sei, conform dem englischen „guiltx"
„not KuM?" zur sacramentellen, stets zu beobachtenden erhebt, daraus ant¬
worten :

„I/aeeuLL est-it evuMblL ä'avoir eomwis tel mem-tre, tel vol vu tel
ÄutrL erimv, o.pee toutes Jos eireonswllces eomxrisvs 6aus 1o r6sum6 ac
l'u,co ä'l>,<nuLÄtioii."

Hiernach hat sich die Praxis der Regel nach so gestaltet, daß die Ge¬
schworenen zwar nicht darnach gefragt werden, ob der Angeklagte des Mordes,


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[0266] setz sich bedient, schon dadurch, daß das Gesetz dies thut, zu einem Rechtsbegriffe, ge¬ hörte er auch scheinbar noch so sehr lediglich dem gewöhnlichen Leben an: denn jeder Begriff, der in einem Gesetze vorkommt, kann vollkommen richtig nur im Zu¬ sammenhange des Gesetzes, ja des Rechtssystems überhaupt aufgefaßt werden. Nichts scheint z. B. mehr dem gewöhnlichen Leben anzugehören als der Be¬ griff der Nachtzeit. Allein wenn ein Gesetzbuch z. B. den unter gewissen Umständen bei Nachtzeit begangenen Diebstahl als einen besonders strafbaren qualificirt, so wird man sogleich vor die Frage gestellt: beginnt die Nachtzeit mit dem Dunkelwerden oder mit dem Zeitpunkte, wo man zur Ruhe zu gehen pflegt, und ist in letzter Beziehung die allgemeine Gewohnheit der Bewohner etwa des Ortes oder die individuelle Gewohnheit der Bewohner des Hauses maßgebend, in welchem gestohlen wurde. Kann man es ferner, z. B. noch als ein „Erbrechen" im juristischen Sinne bezeichnen, wenn ein Schloß durch einen nicht sehr starken Ruck an der Klinke geöffnet zu werden vermochte? Es ist klar, daß dieses und Aehnliches nur durch Kenntniß des Zusammen¬ hanges des Gesetzes, ja zuweilen nur durch Zuhülfenahme selbst historischer Nachforschung festzustellen ist. Zweitens aber stehen die factischen Vorgänge des Lebens in ununterbrochenem Zusammenhange. Schon die Ausscheidung der für das Urtheil in Betracht kommenden Umstände setzt daher voraus ein rechtliches Urtheil, mindestens dahin, daß andere als die bezeichneten Umstände rechtlich nicht in Betracht kommen können. Die Erzählung eines Borganges ist noch nicht, wie Glaser sehr richtig bemerkt hat, die Photographie des- selben, und auch die Photographie würde hier, da eben im Strafrechte die Ge¬ danken und Vorstellungen der handelnden Personen sehr wesentlich in Be¬ tracht kommen, nicht ausreichen. Um sich dies klar zu machen, braucht man sich nur daran zu erinnern, daß Personen, die mit der rechtlichen Beurtheilung der Sache nicht vertraut sind, wenn sie von einem juristischen Falle erzählen, manche rechtlich wesentliche Punkte zu übergehen, unwesentliche mitzuerzählen pflegen. Nach beiden Richtungen hin ist also eine absolute Trennung von That- und Rechtsfrage unmöglich. Davon ist man auch in Frankreich zurückgekommen. Der tüoäs Ä'iu- Ktruetion eriwiiwUö läßt die Geschworenen, indem er die Formel, ob der Angeklagte schuldig (cou,xg,d!o) sei, conform dem englischen „guiltx" „not KuM?" zur sacramentellen, stets zu beobachtenden erhebt, daraus ant¬ worten : „I/aeeuLL est-it evuMblL ä'avoir eomwis tel mem-tre, tel vol vu tel ÄutrL erimv, o.pee toutes Jos eireonswllces eomxrisvs 6aus 1o r6sum6 ac l'u,co ä'l>,<nuLÄtioii." Hiernach hat sich die Praxis der Regel nach so gestaltet, daß die Ge¬ schworenen zwar nicht darnach gefragt werden, ob der Angeklagte des Mordes,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/266>, abgerufen am 06.02.2025.