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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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einzelne Sätze Beethoven'scher Clavier-Sonaten, man hat Weber's "Aufforde¬
rung zum Tanze" für Orchester arrangirt -- der Charakter der Compo-
sitionen ist dabei vollständig ruinirt worden. Vor einigen Jahren konnte
man kein öffentliches Concert hören, ohne daß man die "Träumerei", das
bekannte kleine Charakterstück aus Schumann's "Kinderscenen" für volles
Streichquartett arrangirt, mit in Kauf nehmen mußte. Es war förmlich
Mode geworden, sobald diese Nummer des Programms an die Reihe kam,
sich besonders zurecht zu setzen, jede Unterhaltung einzustellen und in athem¬
loser Spannung zu lauschen >-- man glaubte Wunder was zu hören. Es
klang auch gar nicht übel. Wer sich aber einbildete, wirklich Schumann's
"Träumerei" zu hören, der war sehr im Irrthum. Um das Stück für Streich¬
instrumente überhaupt fähig zu machen, spielte man es über noch einmal
so langsam, als es der Componist vorgeschrieben hat! Es war ein ganz
anderes Stück daraus geworden.

Man lasse also dem Clavier, was ihm gebührt: seine Musik und seine
Bedeutung. Dem Claviere kann ein Vorwurf gemacht werden: es hat dem
Dilettantismus Vorschub geleistet. Daß in keiner Kunst das Di-
lettantenthum sich so breit macht, wie in der Musik, daß die Musik den Cha¬
rakter einer so plebejen Aufdringlichkeit hat, daß sie uns überallhin verfolgt,
wo wir sie nicht mögen, daran ist zum guten Theile das Clavier schuld.
Daß aber dieser Dilettantismus ein so jammervoller ist, daß unter tausend,
clavierklimpernden Menschen keine zehn sind, die musikalische Bildung haben,
dafür kann doch das Clavier wahrhaftig nichts. Dem Claviere die Haupt¬
schuld an der Mangelhaftigkeit unsrer musikalischen Bildung zuzuschieben, das
ist gerade so, als wenn jemand sagen wollte, die Hauptschuld an der Trunk¬
sucht der Menschen tragen die Gläser. Die Frage, wer in Wahrheit unsre
musikalische Unbildung verschuldet, hat schon vor zwanzig Jahren viel rich¬
tiger Riehl beantwortet in seinen "Briefen an einen Staatsmann über musi¬
kalische Erziehung", deren Lecture wir Bruno Meyer dringend empfehlen --
schon als einen ihm gewiß sehr willkommenen Beleg für die Nichtigkeit des
von ihm gewählten Mottos. nicht ist doch gewiß schlecht auf das Clavier
zu sprechen, er will es nur als "ein höchst nothwendiges Uebel" gelten lassen,
er nennt es das "encyclopädische", das "characterlose" Clavier. Ueber un¬
sern Musikunterricht aber sagt er: "Die Musik wird ruinirt durch die
Musiker. Mit demselben Aufwand an Zeit und Kraft, den wir daran
setzen, daß die Schüler die technischen Schwierigkeiten werthloser Tagesmusik
überwinden, brächte man sie auch zum Spiel und Verständniß der einfachen
Partituren classischer Meister. Mit solcher Kunst könnten unsre jungen Herren
und Damen dann freilich nicht im Salon glänzen, allein es wäre ihnen dafür
eine Fülle des reichsten Bildungsstoffes fürs ganze Leben erschlossen." Fast


einzelne Sätze Beethoven'scher Clavier-Sonaten, man hat Weber's „Aufforde¬
rung zum Tanze" für Orchester arrangirt — der Charakter der Compo-
sitionen ist dabei vollständig ruinirt worden. Vor einigen Jahren konnte
man kein öffentliches Concert hören, ohne daß man die „Träumerei", das
bekannte kleine Charakterstück aus Schumann's „Kinderscenen" für volles
Streichquartett arrangirt, mit in Kauf nehmen mußte. Es war förmlich
Mode geworden, sobald diese Nummer des Programms an die Reihe kam,
sich besonders zurecht zu setzen, jede Unterhaltung einzustellen und in athem¬
loser Spannung zu lauschen >— man glaubte Wunder was zu hören. Es
klang auch gar nicht übel. Wer sich aber einbildete, wirklich Schumann's
„Träumerei" zu hören, der war sehr im Irrthum. Um das Stück für Streich¬
instrumente überhaupt fähig zu machen, spielte man es über noch einmal
so langsam, als es der Componist vorgeschrieben hat! Es war ein ganz
anderes Stück daraus geworden.

Man lasse also dem Clavier, was ihm gebührt: seine Musik und seine
Bedeutung. Dem Claviere kann ein Vorwurf gemacht werden: es hat dem
Dilettantismus Vorschub geleistet. Daß in keiner Kunst das Di-
lettantenthum sich so breit macht, wie in der Musik, daß die Musik den Cha¬
rakter einer so plebejen Aufdringlichkeit hat, daß sie uns überallhin verfolgt,
wo wir sie nicht mögen, daran ist zum guten Theile das Clavier schuld.
Daß aber dieser Dilettantismus ein so jammervoller ist, daß unter tausend,
clavierklimpernden Menschen keine zehn sind, die musikalische Bildung haben,
dafür kann doch das Clavier wahrhaftig nichts. Dem Claviere die Haupt¬
schuld an der Mangelhaftigkeit unsrer musikalischen Bildung zuzuschieben, das
ist gerade so, als wenn jemand sagen wollte, die Hauptschuld an der Trunk¬
sucht der Menschen tragen die Gläser. Die Frage, wer in Wahrheit unsre
musikalische Unbildung verschuldet, hat schon vor zwanzig Jahren viel rich¬
tiger Riehl beantwortet in seinen „Briefen an einen Staatsmann über musi¬
kalische Erziehung", deren Lecture wir Bruno Meyer dringend empfehlen —
schon als einen ihm gewiß sehr willkommenen Beleg für die Nichtigkeit des
von ihm gewählten Mottos. nicht ist doch gewiß schlecht auf das Clavier
zu sprechen, er will es nur als „ein höchst nothwendiges Uebel" gelten lassen,
er nennt es das „encyclopädische", das „characterlose" Clavier. Ueber un¬
sern Musikunterricht aber sagt er: „Die Musik wird ruinirt durch die
Musiker. Mit demselben Aufwand an Zeit und Kraft, den wir daran
setzen, daß die Schüler die technischen Schwierigkeiten werthloser Tagesmusik
überwinden, brächte man sie auch zum Spiel und Verständniß der einfachen
Partituren classischer Meister. Mit solcher Kunst könnten unsre jungen Herren
und Damen dann freilich nicht im Salon glänzen, allein es wäre ihnen dafür
eine Fülle des reichsten Bildungsstoffes fürs ganze Leben erschlossen." Fast


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[0261] einzelne Sätze Beethoven'scher Clavier-Sonaten, man hat Weber's „Aufforde¬ rung zum Tanze" für Orchester arrangirt — der Charakter der Compo- sitionen ist dabei vollständig ruinirt worden. Vor einigen Jahren konnte man kein öffentliches Concert hören, ohne daß man die „Träumerei", das bekannte kleine Charakterstück aus Schumann's „Kinderscenen" für volles Streichquartett arrangirt, mit in Kauf nehmen mußte. Es war förmlich Mode geworden, sobald diese Nummer des Programms an die Reihe kam, sich besonders zurecht zu setzen, jede Unterhaltung einzustellen und in athem¬ loser Spannung zu lauschen >— man glaubte Wunder was zu hören. Es klang auch gar nicht übel. Wer sich aber einbildete, wirklich Schumann's „Träumerei" zu hören, der war sehr im Irrthum. Um das Stück für Streich¬ instrumente überhaupt fähig zu machen, spielte man es über noch einmal so langsam, als es der Componist vorgeschrieben hat! Es war ein ganz anderes Stück daraus geworden. Man lasse also dem Clavier, was ihm gebührt: seine Musik und seine Bedeutung. Dem Claviere kann ein Vorwurf gemacht werden: es hat dem Dilettantismus Vorschub geleistet. Daß in keiner Kunst das Di- lettantenthum sich so breit macht, wie in der Musik, daß die Musik den Cha¬ rakter einer so plebejen Aufdringlichkeit hat, daß sie uns überallhin verfolgt, wo wir sie nicht mögen, daran ist zum guten Theile das Clavier schuld. Daß aber dieser Dilettantismus ein so jammervoller ist, daß unter tausend, clavierklimpernden Menschen keine zehn sind, die musikalische Bildung haben, dafür kann doch das Clavier wahrhaftig nichts. Dem Claviere die Haupt¬ schuld an der Mangelhaftigkeit unsrer musikalischen Bildung zuzuschieben, das ist gerade so, als wenn jemand sagen wollte, die Hauptschuld an der Trunk¬ sucht der Menschen tragen die Gläser. Die Frage, wer in Wahrheit unsre musikalische Unbildung verschuldet, hat schon vor zwanzig Jahren viel rich¬ tiger Riehl beantwortet in seinen „Briefen an einen Staatsmann über musi¬ kalische Erziehung", deren Lecture wir Bruno Meyer dringend empfehlen — schon als einen ihm gewiß sehr willkommenen Beleg für die Nichtigkeit des von ihm gewählten Mottos. nicht ist doch gewiß schlecht auf das Clavier zu sprechen, er will es nur als „ein höchst nothwendiges Uebel" gelten lassen, er nennt es das „encyclopädische", das „characterlose" Clavier. Ueber un¬ sern Musikunterricht aber sagt er: „Die Musik wird ruinirt durch die Musiker. Mit demselben Aufwand an Zeit und Kraft, den wir daran setzen, daß die Schüler die technischen Schwierigkeiten werthloser Tagesmusik überwinden, brächte man sie auch zum Spiel und Verständniß der einfachen Partituren classischer Meister. Mit solcher Kunst könnten unsre jungen Herren und Damen dann freilich nicht im Salon glänzen, allein es wäre ihnen dafür eine Fülle des reichsten Bildungsstoffes fürs ganze Leben erschlossen." Fast

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/261>, abgerufen am 06.02.2025.