Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.Clavier auch für den Theoretiker und den Componisten. Er vergleicht es mit Summa Summarum: Die Anklagen Bruno Meyer's gegen das Clavier Clavier auch für den Theoretiker und den Componisten. Er vergleicht es mit Summa Summarum: Die Anklagen Bruno Meyer's gegen das Clavier <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0260" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/193063"/> <p xml:id="ID_836" prev="#ID_835"> Clavier auch für den Theoretiker und den Componisten. Er vergleicht es mit<lb/> der Gelenkpuppe des Malers und Bildhauers; wie diesen der Gliedermaun<lb/> nicht die lebendige Natur ersetzen könne, so dem Componisten das Clavier<lb/> nicht die Fülle und Mächtigkeit der Tonwelt. Das ist wieder einer jener wun¬<lb/> derlichen Vergleiche wie der zwischen dem Kupferstecher und dem Virtuosen.<lb/> Die Gliederpuppe dient dem Maler als Modell für das zu schaffende Kunst¬<lb/> werk. Das musikalische Kunstwerk ist aber das Tonstück. Wie kann man<lb/> nun das Clavier das Modell des Tonstückes nennen! Unsre modernen<lb/> Componisten mögen sich freilich ihre Orchestercompofitionen oft genug am<lb/> Clavier zusammensuchen und dann erst in die Sprache des Orchesters über¬<lb/> tragen, „instrumentiren". Aber dabei handelt es sich nicht um eine Über¬<lb/> tragung aus einem leeren und ohnmächtigen Instrumente in die „Fülle und<lb/> Mächtigkeit der Tonwelt", sondern um die Uebertragung aus einer einzigen<lb/> unterschiedslosen Klangfarbe in eine Vielheit von Klangfarben und deren<lb/> mannichfache Combinationen unter einander. Daß an dieser Uebersetzungsauf-<lb/> gabe bisweilen unsre größten Componisten gescheitert sind, unterliegt gar<lb/> keinem Zweifel; wir haben es schon oben angedeutet.</p><lb/> <p xml:id="ID_837" next="#ID_838"> Summa Summarum: Die Anklagen Bruno Meyer's gegen das Clavier<lb/> find in hohem Grade einseitig. Zu sagen, der Klavierspieler habe von seinem<lb/> Instrumente „nichts für seinen inneren Menschen", ist entschieden verkehrt.<lb/> Was hat denn der Geiger von seiner Geige als solcher für den inneren Men¬<lb/> schen? Man kann die Geige genau so geistlos und seelenlos behandeln wie<lb/> das Clavier. Es giebt aber eine große Menge der echtesten Claviermusik, Mu¬<lb/> sik, die einzig und allein für das Clavier erfunden und geschrieben ist. Und<lb/> welch' eine unendliche Fülle von Schönheit ist darin niedergelegt! Chopin und<lb/> Schumann haben in ihren Claviercompositionen dem Rhythmus und der Har¬<lb/> monie geradezu neue Gebiete erobert, auf welche kein anderes Instrument und<lb/> kein Orchester dem Clavier zu folgen fähig ist. Ihnen verdanken wir Rhyth¬<lb/> men, die lediglich dadurch zur vollen Entfaltung ihres Reizes gelangen, daß<lb/> eben ein einziger Spieler sie in der Gewalt hat, und die stets eckig und klapp¬<lb/> rig klingen würden, wenn mehrere zu ihrer Darstellung beitragen müßten;<lb/> Klangwirkungen, die bei jener Materialität des Tones, wie sie die Blasinstru¬<lb/> mente haben, ganz undenkbar sind, und deren vollendete Wiedergabe wiederum<lb/> nie einem Ensemble, sondern nur dem einzelnen Spieler möglich ist, der<lb/> es in der Gewalt hat, die jedesmaligen Hauptsinntöne hervor-, die üb¬<lb/> rigen in den Schatten treten zu lassen. Und diese echte Clavier¬<lb/> musik steht völlig gleichberechtigt neben aller andern, so wie das Cla¬<lb/> vier gleichberechtigt neben allen anderen Instrumenten steht; sie läßt sich eben¬<lb/> so wenig ins Orchester übertragen, wie eine Cellocomvosition für das Fagott<lb/> arrangiren. Wo es versucht worden ist. da ist es mißlungen. Man hat</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0260]
Clavier auch für den Theoretiker und den Componisten. Er vergleicht es mit
der Gelenkpuppe des Malers und Bildhauers; wie diesen der Gliedermaun
nicht die lebendige Natur ersetzen könne, so dem Componisten das Clavier
nicht die Fülle und Mächtigkeit der Tonwelt. Das ist wieder einer jener wun¬
derlichen Vergleiche wie der zwischen dem Kupferstecher und dem Virtuosen.
Die Gliederpuppe dient dem Maler als Modell für das zu schaffende Kunst¬
werk. Das musikalische Kunstwerk ist aber das Tonstück. Wie kann man
nun das Clavier das Modell des Tonstückes nennen! Unsre modernen
Componisten mögen sich freilich ihre Orchestercompofitionen oft genug am
Clavier zusammensuchen und dann erst in die Sprache des Orchesters über¬
tragen, „instrumentiren". Aber dabei handelt es sich nicht um eine Über¬
tragung aus einem leeren und ohnmächtigen Instrumente in die „Fülle und
Mächtigkeit der Tonwelt", sondern um die Uebertragung aus einer einzigen
unterschiedslosen Klangfarbe in eine Vielheit von Klangfarben und deren
mannichfache Combinationen unter einander. Daß an dieser Uebersetzungsauf-
gabe bisweilen unsre größten Componisten gescheitert sind, unterliegt gar
keinem Zweifel; wir haben es schon oben angedeutet.
Summa Summarum: Die Anklagen Bruno Meyer's gegen das Clavier
find in hohem Grade einseitig. Zu sagen, der Klavierspieler habe von seinem
Instrumente „nichts für seinen inneren Menschen", ist entschieden verkehrt.
Was hat denn der Geiger von seiner Geige als solcher für den inneren Men¬
schen? Man kann die Geige genau so geistlos und seelenlos behandeln wie
das Clavier. Es giebt aber eine große Menge der echtesten Claviermusik, Mu¬
sik, die einzig und allein für das Clavier erfunden und geschrieben ist. Und
welch' eine unendliche Fülle von Schönheit ist darin niedergelegt! Chopin und
Schumann haben in ihren Claviercompositionen dem Rhythmus und der Har¬
monie geradezu neue Gebiete erobert, auf welche kein anderes Instrument und
kein Orchester dem Clavier zu folgen fähig ist. Ihnen verdanken wir Rhyth¬
men, die lediglich dadurch zur vollen Entfaltung ihres Reizes gelangen, daß
eben ein einziger Spieler sie in der Gewalt hat, und die stets eckig und klapp¬
rig klingen würden, wenn mehrere zu ihrer Darstellung beitragen müßten;
Klangwirkungen, die bei jener Materialität des Tones, wie sie die Blasinstru¬
mente haben, ganz undenkbar sind, und deren vollendete Wiedergabe wiederum
nie einem Ensemble, sondern nur dem einzelnen Spieler möglich ist, der
es in der Gewalt hat, die jedesmaligen Hauptsinntöne hervor-, die üb¬
rigen in den Schatten treten zu lassen. Und diese echte Clavier¬
musik steht völlig gleichberechtigt neben aller andern, so wie das Cla¬
vier gleichberechtigt neben allen anderen Instrumenten steht; sie läßt sich eben¬
so wenig ins Orchester übertragen, wie eine Cellocomvosition für das Fagott
arrangiren. Wo es versucht worden ist. da ist es mißlungen. Man hat
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