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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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unser gesammter Musikunterricht ist ja Privatunterricht. Nun denke man,
wie es um unsre Bildung überhaupt bestellt sein würde, wenn aller Unter¬
richt in den Händen von Privatlehrern läge. Kein Privatlehrer braucht seine
Bildung und seine Lehrfähigkeit vor einem urtheilsfähigem Richter zu docu-
mentiren; und selbst dann, wenn er selber gründliche musikalische Bildung
besäße und die Fähigkeit hätte, auch andere zu musikalischen Verständniß an¬
zuleiten, so ist doch die einzige Richtschnur seines Unterrichts in der Regel
die, es seinen Schülern oder den Eltern seiner Schüler recht zu machen.
Macht er es ihnen nicht recht, d. h. bringt er es nicht binnen Jahresfrist da¬
hin, daß das Söhnlein oder Töchterlein eine lumpige italienische Lieblings¬
opernarie des Herrn Papa oder "I^xriöreä'uns Vierte" oder "I^s et6Sir" oder das
"Silbersischschen" und wie all dieser abscheuliche Auswurf unsrer Clavierliteratur
heißt,klimpern kann, nöthigt er die Schüler, gute Musik zu spielen und gutzu spie¬
len, sucht er sie in das Wesen der Musik einzuweihen und zur Erkenntniß des mu¬
sikalisch Schönen anzuleiten, so warten schon zehn andere darauf, ihn abzu¬
lösen, und, die Stunde womöglich noch um einen Groschen billiger, alles nach
Wunsch zu besorgen. Die unglückliche und traurige Gesellschaft jener Musik¬
lehrer und Musiklehrerinnen, die von früh bis spät herumlaufen und eine
Lection nach der andern abhaspeln und dabei -- oft allerdings gegen ihr
besseres Wissen und ihre bessere Ueberzeugung -- um des lieben Brodes
willen dem herrschenden Ungeschmack Rechnung tragen müssen, die sind, es
die die musikalische Bildung heruntergebracht haben und fort und fort unter
Null erhalten.

So viel vom Claviere. Was endlich die sittliche Wirkung der Musik be¬
trifft, so stellt auch da wieder Bruno Meyer eine recht einseitige Behauptung
auf. Er meint, daß Musiker von Fach gewöhnlich die ungebildetsten Men¬
schen seien, insofern sie an einer erstaunlichen Unbeholfenheit in allen prak¬
tischen Dingen und einer gränzenlosen Unkenntnis) aller möglichen wichtigen
und allgemein bekannten Sachen laboriren; zudem seien Menschen von vorzugsweise
musikalischer Bildung oft wankelmüthig, launenhaft, unberechenbar. Daran
ist viel Wahres. Nur darf sich dieser Vorwurf nicht allein auf die Musik er¬
strecken. Diese phantastischen, reizbaren, der rauhen Wirklichkeit gegenüber
gänzlich unerfahrenen und Hülflosen Tassonaturen begegnen uns nicht blos
unter den Musikern, sondern unter den Künstlern überhaupt. Dagegen ist
eine andere Beobachtung sehr richtig, daß nämlich die musikalisch gebildetsten
Menschen oft am wenigsten im Stande sind, ihre Sache vorzutragen. Da¬
her auch die merkwürdige Thatsache, daß man trotz der jetzigen Ueberschwem-
mung mit Vorträgen und Vorlesungen aller Art fast nie einem musikalischen
Thema, von einem tüchtigen Musiker behandelt, begegne, daher auch die


unser gesammter Musikunterricht ist ja Privatunterricht. Nun denke man,
wie es um unsre Bildung überhaupt bestellt sein würde, wenn aller Unter¬
richt in den Händen von Privatlehrern läge. Kein Privatlehrer braucht seine
Bildung und seine Lehrfähigkeit vor einem urtheilsfähigem Richter zu docu-
mentiren; und selbst dann, wenn er selber gründliche musikalische Bildung
besäße und die Fähigkeit hätte, auch andere zu musikalischen Verständniß an¬
zuleiten, so ist doch die einzige Richtschnur seines Unterrichts in der Regel
die, es seinen Schülern oder den Eltern seiner Schüler recht zu machen.
Macht er es ihnen nicht recht, d. h. bringt er es nicht binnen Jahresfrist da¬
hin, daß das Söhnlein oder Töchterlein eine lumpige italienische Lieblings¬
opernarie des Herrn Papa oder „I^xriöreä'uns Vierte" oder „I^s et6Sir" oder das
„Silbersischschen" und wie all dieser abscheuliche Auswurf unsrer Clavierliteratur
heißt,klimpern kann, nöthigt er die Schüler, gute Musik zu spielen und gutzu spie¬
len, sucht er sie in das Wesen der Musik einzuweihen und zur Erkenntniß des mu¬
sikalisch Schönen anzuleiten, so warten schon zehn andere darauf, ihn abzu¬
lösen, und, die Stunde womöglich noch um einen Groschen billiger, alles nach
Wunsch zu besorgen. Die unglückliche und traurige Gesellschaft jener Musik¬
lehrer und Musiklehrerinnen, die von früh bis spät herumlaufen und eine
Lection nach der andern abhaspeln und dabei — oft allerdings gegen ihr
besseres Wissen und ihre bessere Ueberzeugung — um des lieben Brodes
willen dem herrschenden Ungeschmack Rechnung tragen müssen, die sind, es
die die musikalische Bildung heruntergebracht haben und fort und fort unter
Null erhalten.

So viel vom Claviere. Was endlich die sittliche Wirkung der Musik be¬
trifft, so stellt auch da wieder Bruno Meyer eine recht einseitige Behauptung
auf. Er meint, daß Musiker von Fach gewöhnlich die ungebildetsten Men¬
schen seien, insofern sie an einer erstaunlichen Unbeholfenheit in allen prak¬
tischen Dingen und einer gränzenlosen Unkenntnis) aller möglichen wichtigen
und allgemein bekannten Sachen laboriren; zudem seien Menschen von vorzugsweise
musikalischer Bildung oft wankelmüthig, launenhaft, unberechenbar. Daran
ist viel Wahres. Nur darf sich dieser Vorwurf nicht allein auf die Musik er¬
strecken. Diese phantastischen, reizbaren, der rauhen Wirklichkeit gegenüber
gänzlich unerfahrenen und Hülflosen Tassonaturen begegnen uns nicht blos
unter den Musikern, sondern unter den Künstlern überhaupt. Dagegen ist
eine andere Beobachtung sehr richtig, daß nämlich die musikalisch gebildetsten
Menschen oft am wenigsten im Stande sind, ihre Sache vorzutragen. Da¬
her auch die merkwürdige Thatsache, daß man trotz der jetzigen Ueberschwem-
mung mit Vorträgen und Vorlesungen aller Art fast nie einem musikalischen
Thema, von einem tüchtigen Musiker behandelt, begegne, daher auch die


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[0262] unser gesammter Musikunterricht ist ja Privatunterricht. Nun denke man, wie es um unsre Bildung überhaupt bestellt sein würde, wenn aller Unter¬ richt in den Händen von Privatlehrern läge. Kein Privatlehrer braucht seine Bildung und seine Lehrfähigkeit vor einem urtheilsfähigem Richter zu docu- mentiren; und selbst dann, wenn er selber gründliche musikalische Bildung besäße und die Fähigkeit hätte, auch andere zu musikalischen Verständniß an¬ zuleiten, so ist doch die einzige Richtschnur seines Unterrichts in der Regel die, es seinen Schülern oder den Eltern seiner Schüler recht zu machen. Macht er es ihnen nicht recht, d. h. bringt er es nicht binnen Jahresfrist da¬ hin, daß das Söhnlein oder Töchterlein eine lumpige italienische Lieblings¬ opernarie des Herrn Papa oder „I^xriöreä'uns Vierte" oder „I^s et6Sir" oder das „Silbersischschen" und wie all dieser abscheuliche Auswurf unsrer Clavierliteratur heißt,klimpern kann, nöthigt er die Schüler, gute Musik zu spielen und gutzu spie¬ len, sucht er sie in das Wesen der Musik einzuweihen und zur Erkenntniß des mu¬ sikalisch Schönen anzuleiten, so warten schon zehn andere darauf, ihn abzu¬ lösen, und, die Stunde womöglich noch um einen Groschen billiger, alles nach Wunsch zu besorgen. Die unglückliche und traurige Gesellschaft jener Musik¬ lehrer und Musiklehrerinnen, die von früh bis spät herumlaufen und eine Lection nach der andern abhaspeln und dabei — oft allerdings gegen ihr besseres Wissen und ihre bessere Ueberzeugung — um des lieben Brodes willen dem herrschenden Ungeschmack Rechnung tragen müssen, die sind, es die die musikalische Bildung heruntergebracht haben und fort und fort unter Null erhalten. So viel vom Claviere. Was endlich die sittliche Wirkung der Musik be¬ trifft, so stellt auch da wieder Bruno Meyer eine recht einseitige Behauptung auf. Er meint, daß Musiker von Fach gewöhnlich die ungebildetsten Men¬ schen seien, insofern sie an einer erstaunlichen Unbeholfenheit in allen prak¬ tischen Dingen und einer gränzenlosen Unkenntnis) aller möglichen wichtigen und allgemein bekannten Sachen laboriren; zudem seien Menschen von vorzugsweise musikalischer Bildung oft wankelmüthig, launenhaft, unberechenbar. Daran ist viel Wahres. Nur darf sich dieser Vorwurf nicht allein auf die Musik er¬ strecken. Diese phantastischen, reizbaren, der rauhen Wirklichkeit gegenüber gänzlich unerfahrenen und Hülflosen Tassonaturen begegnen uns nicht blos unter den Musikern, sondern unter den Künstlern überhaupt. Dagegen ist eine andere Beobachtung sehr richtig, daß nämlich die musikalisch gebildetsten Menschen oft am wenigsten im Stande sind, ihre Sache vorzutragen. Da¬ her auch die merkwürdige Thatsache, daß man trotz der jetzigen Ueberschwem- mung mit Vorträgen und Vorlesungen aller Art fast nie einem musikalischen Thema, von einem tüchtigen Musiker behandelt, begegne, daher auch die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/262>, abgerufen am 05.02.2025.