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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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ein Hauptaugenmerk des Verfassers gewesen, der überall, wo er die franzö¬
sischen literarischen, gesellschaftlichen, politischen Zustände schildert, auf die
analogen oder widersprechenden Erscheinungen in Deutschland (gelegentlich
auch in andern Ländern) hinweist. So gewinnen wir stets klare Einblicke in
die gestimmte geistige Bewegung der Zeit; an jeder geeigneten Stelle erwei¬
tert sich der Horizont und von dem französischen Boden aus werden uns
Fernsichten in Gebiete eröffnet, die durch tausend Canäle mit Frankreich in
den lebendigsten, sei es freundlichen, sei es feindlichen und abstoßenden Be¬
ziehungen stehen. So streng der Verfasser sich an seine Aufgabe hält, eine
Geschichte der französischen Literatur, der französischen Geistesarbeit
zu geben, so legt er doch stets die Fäden bloß, welche diese Geistesarbeit mit
der gesammten Geistesarbeit des Jahrhunderts, die französische Literatur mit
der Weltliteratur, und ganz besonders mit der deutschen Literatur verbinden.
Oft genügt eine bloße kurze Hinweisung auf gleichzeitige Erscheinungen in
Deutschland, oft werden die Berührungen und gegenseitigen Beziehungen in
ausführlicher Darstellung entwickelt.

Die Klagen der deutschen Patrioten über die Nachahmung französischer
Sitte, über die Vorliebe für die französische Sprache, über die dieser Vorliebe
entsprungene Verderbniß der eignen Sprache sind sehr alt. Aber der Ein¬
fluß der Franzosen auf die deutsche Li t eratur beginnt erst, wo der Kampf
gegen das Französische anhebt, und wenn man an Julian Schmidt's Be¬
hauptung, daß dieser Einfluß ein überwiegend segensreicher gewesen ist, viel¬
fach Anstoß nehmen wird, so wird man sie doch nicht widerlegen können.
Man muß nur die unglaubliche Verwilderung ins Auge fassen, der unsere
Literatur seit dem dreißigjährigen Kriege verfallen war, um zu begreifen, daß
wir, um nur erst wieder den Sinn für eine feste, klare und reine Form der
Darstellung zu gewinnen, bei fremden Meistern in die Schule gehen mußten.
Wir haben später die Schule der Alten besucht, wir haben uns in das
Studium der großen Briten vertieft, und aus dem Studium beider einen
man möchte sagen überreichen Gewinn gezogen. Aber aus dem Zustand der
Verwahrlosung, in welchem unsere Sprache sich im Beginn des vorigen Jahr¬
hunderts befand, konnte sie weder durch die Griechen und Römer, noch durch
die Briten erlöst werden. Die zur Carricatur gewordene Zuchtlosigkeit der
Sprache machte dieselbe zum Organ einer klaren geordneten Darstellung un¬
fähig. Wer seine Gedanken mit logischer Consequenz entwickeln, wer sie klar,
bestimmt und in gefälliger Form ausdrücken wollte, dem versagte die Mutter¬
sprache ihre Dienste, er mußte seine Gedanken einem fremden Idiom anver¬
trauen. Der Deutsche vermochte nicht, Deutsch zu schreiben und darum ver¬
lernte er auch. Deutsch zu denken. In dieser Lage kam es für uns zunächst
nicht darauf an, einen Schatz neuer Ideen zu gewinnen -- an Ideen war


ein Hauptaugenmerk des Verfassers gewesen, der überall, wo er die franzö¬
sischen literarischen, gesellschaftlichen, politischen Zustände schildert, auf die
analogen oder widersprechenden Erscheinungen in Deutschland (gelegentlich
auch in andern Ländern) hinweist. So gewinnen wir stets klare Einblicke in
die gestimmte geistige Bewegung der Zeit; an jeder geeigneten Stelle erwei¬
tert sich der Horizont und von dem französischen Boden aus werden uns
Fernsichten in Gebiete eröffnet, die durch tausend Canäle mit Frankreich in
den lebendigsten, sei es freundlichen, sei es feindlichen und abstoßenden Be¬
ziehungen stehen. So streng der Verfasser sich an seine Aufgabe hält, eine
Geschichte der französischen Literatur, der französischen Geistesarbeit
zu geben, so legt er doch stets die Fäden bloß, welche diese Geistesarbeit mit
der gesammten Geistesarbeit des Jahrhunderts, die französische Literatur mit
der Weltliteratur, und ganz besonders mit der deutschen Literatur verbinden.
Oft genügt eine bloße kurze Hinweisung auf gleichzeitige Erscheinungen in
Deutschland, oft werden die Berührungen und gegenseitigen Beziehungen in
ausführlicher Darstellung entwickelt.

Die Klagen der deutschen Patrioten über die Nachahmung französischer
Sitte, über die Vorliebe für die französische Sprache, über die dieser Vorliebe
entsprungene Verderbniß der eignen Sprache sind sehr alt. Aber der Ein¬
fluß der Franzosen auf die deutsche Li t eratur beginnt erst, wo der Kampf
gegen das Französische anhebt, und wenn man an Julian Schmidt's Be¬
hauptung, daß dieser Einfluß ein überwiegend segensreicher gewesen ist, viel¬
fach Anstoß nehmen wird, so wird man sie doch nicht widerlegen können.
Man muß nur die unglaubliche Verwilderung ins Auge fassen, der unsere
Literatur seit dem dreißigjährigen Kriege verfallen war, um zu begreifen, daß
wir, um nur erst wieder den Sinn für eine feste, klare und reine Form der
Darstellung zu gewinnen, bei fremden Meistern in die Schule gehen mußten.
Wir haben später die Schule der Alten besucht, wir haben uns in das
Studium der großen Briten vertieft, und aus dem Studium beider einen
man möchte sagen überreichen Gewinn gezogen. Aber aus dem Zustand der
Verwahrlosung, in welchem unsere Sprache sich im Beginn des vorigen Jahr¬
hunderts befand, konnte sie weder durch die Griechen und Römer, noch durch
die Briten erlöst werden. Die zur Carricatur gewordene Zuchtlosigkeit der
Sprache machte dieselbe zum Organ einer klaren geordneten Darstellung un¬
fähig. Wer seine Gedanken mit logischer Consequenz entwickeln, wer sie klar,
bestimmt und in gefälliger Form ausdrücken wollte, dem versagte die Mutter¬
sprache ihre Dienste, er mußte seine Gedanken einem fremden Idiom anver¬
trauen. Der Deutsche vermochte nicht, Deutsch zu schreiben und darum ver¬
lernte er auch. Deutsch zu denken. In dieser Lage kam es für uns zunächst
nicht darauf an, einen Schatz neuer Ideen zu gewinnen — an Ideen war


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[0188] ein Hauptaugenmerk des Verfassers gewesen, der überall, wo er die franzö¬ sischen literarischen, gesellschaftlichen, politischen Zustände schildert, auf die analogen oder widersprechenden Erscheinungen in Deutschland (gelegentlich auch in andern Ländern) hinweist. So gewinnen wir stets klare Einblicke in die gestimmte geistige Bewegung der Zeit; an jeder geeigneten Stelle erwei¬ tert sich der Horizont und von dem französischen Boden aus werden uns Fernsichten in Gebiete eröffnet, die durch tausend Canäle mit Frankreich in den lebendigsten, sei es freundlichen, sei es feindlichen und abstoßenden Be¬ ziehungen stehen. So streng der Verfasser sich an seine Aufgabe hält, eine Geschichte der französischen Literatur, der französischen Geistesarbeit zu geben, so legt er doch stets die Fäden bloß, welche diese Geistesarbeit mit der gesammten Geistesarbeit des Jahrhunderts, die französische Literatur mit der Weltliteratur, und ganz besonders mit der deutschen Literatur verbinden. Oft genügt eine bloße kurze Hinweisung auf gleichzeitige Erscheinungen in Deutschland, oft werden die Berührungen und gegenseitigen Beziehungen in ausführlicher Darstellung entwickelt. Die Klagen der deutschen Patrioten über die Nachahmung französischer Sitte, über die Vorliebe für die französische Sprache, über die dieser Vorliebe entsprungene Verderbniß der eignen Sprache sind sehr alt. Aber der Ein¬ fluß der Franzosen auf die deutsche Li t eratur beginnt erst, wo der Kampf gegen das Französische anhebt, und wenn man an Julian Schmidt's Be¬ hauptung, daß dieser Einfluß ein überwiegend segensreicher gewesen ist, viel¬ fach Anstoß nehmen wird, so wird man sie doch nicht widerlegen können. Man muß nur die unglaubliche Verwilderung ins Auge fassen, der unsere Literatur seit dem dreißigjährigen Kriege verfallen war, um zu begreifen, daß wir, um nur erst wieder den Sinn für eine feste, klare und reine Form der Darstellung zu gewinnen, bei fremden Meistern in die Schule gehen mußten. Wir haben später die Schule der Alten besucht, wir haben uns in das Studium der großen Briten vertieft, und aus dem Studium beider einen man möchte sagen überreichen Gewinn gezogen. Aber aus dem Zustand der Verwahrlosung, in welchem unsere Sprache sich im Beginn des vorigen Jahr¬ hunderts befand, konnte sie weder durch die Griechen und Römer, noch durch die Briten erlöst werden. Die zur Carricatur gewordene Zuchtlosigkeit der Sprache machte dieselbe zum Organ einer klaren geordneten Darstellung un¬ fähig. Wer seine Gedanken mit logischer Consequenz entwickeln, wer sie klar, bestimmt und in gefälliger Form ausdrücken wollte, dem versagte die Mutter¬ sprache ihre Dienste, er mußte seine Gedanken einem fremden Idiom anver¬ trauen. Der Deutsche vermochte nicht, Deutsch zu schreiben und darum ver¬ lernte er auch. Deutsch zu denken. In dieser Lage kam es für uns zunächst nicht darauf an, einen Schatz neuer Ideen zu gewinnen — an Ideen war

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/188>, abgerufen am 06.02.2025.