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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Entwickelungsvhasen des Dichters in dem Zusammenhange der allgemeinen
Strömungen zu behandeln haben, von welcher diese Phasen bedingt werden.

Wir können uns nicht vers ager, die Worte anzuführen, mit denen Julian
Schmidt mit schlagender Beweiskraft die Berechtigung seiner Methode der
Darstellung begründet. "Es klingt heute paradox, wird aber bald, wie ich
meine, trivial erscheinen, daß jede Art der Geschichte in derselben Weise ge¬
ordnet werden muß, wie die politische. Bei einer Geschichte des dreißigjäh-
rigen Krieges würde es Jedem lächerlich vorkommen, wenn man sie in eine
Reihe Biographien auflösen wollte: das Leben Ferdinand's, Wallenstein's,
Tilly's, Gustav Adolph's u. s. w. In der Literaturgeschichte ist das gleich¬
wohl noch heute beliebt."

"Die Literatur, d. h. das Erscheinen oder die Vorbereitung von Büchern,
geschriebenen oder gedruckten; Briefe, öffentliche Vorträge, dramatische Auf¬
führungen, und worin sich sonst das geistige Leben, das Denken und Em
pfinden, das ideale Dichten und Trachten des Volkes ausspricht, besteht aus
einer Reihe von Vorgängen, davon jeder in seiner Entstehung wie in seiner
Wirkung durch die Zeit bedingt wird. Will man also zeigen, wie sie in ein¬
ander griffen, so muß man sie zeigen, wie sie auf einander folgten."

"Dabei ist es freilich weit schwieriger, die Physiognomien der Schrift
steiler so deutlich hervortreten zu lassen, als wenn man sie isolirt. Aber mit
derselben Schwierigkeit hat auch der politische Geschichtsschreiber zu kämpfen;
man muß eben suchen, so gut es geht, der einen wie der andern Aufgabe
gerecht zu werden."

Es ist also grade die Tiefe der geschichtlichen Auffassung, durch welche
bei unserem Verfasser die Methode der Darstellung bedingt wird. Daraus
folgt eigentlich auch schon, daß Julian Schmidt von der Literaturgeschichte einen
höheren Begriff hat, als die Voltairische Schule, die ihr Augenmerk ausschließlich
auf Stil und Form richtet: ihm sind "der Inhalt, die sittlichen und gemüth¬
lichen Vorstellungen, die Blicke in die Weltordnung, das Ideal des Lebens"
wichtiger als der Stil. Er hält die Erfindungen der Poeten neben die Wirk¬
lichkeit, mißt sie an ihr und erklärt sie aus ihr. "Die Literaturgeschichte
kann die Wirklichkeit nicht ignoriren: aus Robespierre und Napoleon lernt
man Rene und Delphine verstehen."

Das Verständniß des modernen französischen Geistes, das ist das Ziel,
welches der Verfasser sich bei seinen Forschungen gesetzt hat. Die Franzosen
sind in ihrer logischen Consequenz und in ihrer praktischen Inconsequenz ein
räthselhaftes Volk. Wir geben uns gegenwärtig mit einer gewissen Leiden¬
schaft dem Studium dieser wunderbaren Nation hin, und mit Recht. "Denn
es walten zwischen uns und den Franzosen dämonische Beziehungen ob, nicht
erst seit gestern, nicht erst seit der Revolution." Auf diese hinzudeuten, ist


Entwickelungsvhasen des Dichters in dem Zusammenhange der allgemeinen
Strömungen zu behandeln haben, von welcher diese Phasen bedingt werden.

Wir können uns nicht vers ager, die Worte anzuführen, mit denen Julian
Schmidt mit schlagender Beweiskraft die Berechtigung seiner Methode der
Darstellung begründet. „Es klingt heute paradox, wird aber bald, wie ich
meine, trivial erscheinen, daß jede Art der Geschichte in derselben Weise ge¬
ordnet werden muß, wie die politische. Bei einer Geschichte des dreißigjäh-
rigen Krieges würde es Jedem lächerlich vorkommen, wenn man sie in eine
Reihe Biographien auflösen wollte: das Leben Ferdinand's, Wallenstein's,
Tilly's, Gustav Adolph's u. s. w. In der Literaturgeschichte ist das gleich¬
wohl noch heute beliebt."

„Die Literatur, d. h. das Erscheinen oder die Vorbereitung von Büchern,
geschriebenen oder gedruckten; Briefe, öffentliche Vorträge, dramatische Auf¬
führungen, und worin sich sonst das geistige Leben, das Denken und Em
pfinden, das ideale Dichten und Trachten des Volkes ausspricht, besteht aus
einer Reihe von Vorgängen, davon jeder in seiner Entstehung wie in seiner
Wirkung durch die Zeit bedingt wird. Will man also zeigen, wie sie in ein¬
ander griffen, so muß man sie zeigen, wie sie auf einander folgten."

„Dabei ist es freilich weit schwieriger, die Physiognomien der Schrift
steiler so deutlich hervortreten zu lassen, als wenn man sie isolirt. Aber mit
derselben Schwierigkeit hat auch der politische Geschichtsschreiber zu kämpfen;
man muß eben suchen, so gut es geht, der einen wie der andern Aufgabe
gerecht zu werden."

Es ist also grade die Tiefe der geschichtlichen Auffassung, durch welche
bei unserem Verfasser die Methode der Darstellung bedingt wird. Daraus
folgt eigentlich auch schon, daß Julian Schmidt von der Literaturgeschichte einen
höheren Begriff hat, als die Voltairische Schule, die ihr Augenmerk ausschließlich
auf Stil und Form richtet: ihm sind „der Inhalt, die sittlichen und gemüth¬
lichen Vorstellungen, die Blicke in die Weltordnung, das Ideal des Lebens"
wichtiger als der Stil. Er hält die Erfindungen der Poeten neben die Wirk¬
lichkeit, mißt sie an ihr und erklärt sie aus ihr. „Die Literaturgeschichte
kann die Wirklichkeit nicht ignoriren: aus Robespierre und Napoleon lernt
man Rene und Delphine verstehen."

Das Verständniß des modernen französischen Geistes, das ist das Ziel,
welches der Verfasser sich bei seinen Forschungen gesetzt hat. Die Franzosen
sind in ihrer logischen Consequenz und in ihrer praktischen Inconsequenz ein
räthselhaftes Volk. Wir geben uns gegenwärtig mit einer gewissen Leiden¬
schaft dem Studium dieser wunderbaren Nation hin, und mit Recht. „Denn
es walten zwischen uns und den Franzosen dämonische Beziehungen ob, nicht
erst seit gestern, nicht erst seit der Revolution." Auf diese hinzudeuten, ist


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[0187] Entwickelungsvhasen des Dichters in dem Zusammenhange der allgemeinen Strömungen zu behandeln haben, von welcher diese Phasen bedingt werden. Wir können uns nicht vers ager, die Worte anzuführen, mit denen Julian Schmidt mit schlagender Beweiskraft die Berechtigung seiner Methode der Darstellung begründet. „Es klingt heute paradox, wird aber bald, wie ich meine, trivial erscheinen, daß jede Art der Geschichte in derselben Weise ge¬ ordnet werden muß, wie die politische. Bei einer Geschichte des dreißigjäh- rigen Krieges würde es Jedem lächerlich vorkommen, wenn man sie in eine Reihe Biographien auflösen wollte: das Leben Ferdinand's, Wallenstein's, Tilly's, Gustav Adolph's u. s. w. In der Literaturgeschichte ist das gleich¬ wohl noch heute beliebt." „Die Literatur, d. h. das Erscheinen oder die Vorbereitung von Büchern, geschriebenen oder gedruckten; Briefe, öffentliche Vorträge, dramatische Auf¬ führungen, und worin sich sonst das geistige Leben, das Denken und Em pfinden, das ideale Dichten und Trachten des Volkes ausspricht, besteht aus einer Reihe von Vorgängen, davon jeder in seiner Entstehung wie in seiner Wirkung durch die Zeit bedingt wird. Will man also zeigen, wie sie in ein¬ ander griffen, so muß man sie zeigen, wie sie auf einander folgten." „Dabei ist es freilich weit schwieriger, die Physiognomien der Schrift steiler so deutlich hervortreten zu lassen, als wenn man sie isolirt. Aber mit derselben Schwierigkeit hat auch der politische Geschichtsschreiber zu kämpfen; man muß eben suchen, so gut es geht, der einen wie der andern Aufgabe gerecht zu werden." Es ist also grade die Tiefe der geschichtlichen Auffassung, durch welche bei unserem Verfasser die Methode der Darstellung bedingt wird. Daraus folgt eigentlich auch schon, daß Julian Schmidt von der Literaturgeschichte einen höheren Begriff hat, als die Voltairische Schule, die ihr Augenmerk ausschließlich auf Stil und Form richtet: ihm sind „der Inhalt, die sittlichen und gemüth¬ lichen Vorstellungen, die Blicke in die Weltordnung, das Ideal des Lebens" wichtiger als der Stil. Er hält die Erfindungen der Poeten neben die Wirk¬ lichkeit, mißt sie an ihr und erklärt sie aus ihr. „Die Literaturgeschichte kann die Wirklichkeit nicht ignoriren: aus Robespierre und Napoleon lernt man Rene und Delphine verstehen." Das Verständniß des modernen französischen Geistes, das ist das Ziel, welches der Verfasser sich bei seinen Forschungen gesetzt hat. Die Franzosen sind in ihrer logischen Consequenz und in ihrer praktischen Inconsequenz ein räthselhaftes Volk. Wir geben uns gegenwärtig mit einer gewissen Leiden¬ schaft dem Studium dieser wunderbaren Nation hin, und mit Recht. „Denn es walten zwischen uns und den Franzosen dämonische Beziehungen ob, nicht erst seit gestern, nicht erst seit der Revolution." Auf diese hinzudeuten, ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/187>, abgerufen am 06.02.2025.