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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Heroen der Politik von den Strömen fortgerissen, deren Quelle sie selbst erst
mit ihrem Zauberstabe geöffnet haben. Es besteht in der Literatur- wie in
der politischen Geschichte eine ununterbrochene Wechselwirkung zwischen dem
Allgemeinen und dem Einzelnen, Was heut bedingend war, wird morgen
durch seine eignen Wirkungen bedingt, um dann selbst wieder bedingend zu
wirken. Aber bei dieser Wechselwirkung zwischen dem Allgemeinen und dem
Einzelnen hat der Geschichtsschreiber den größten Nachdruck auf das
Allgemeine zu legen, welches alle Einzelheiten in sich schließt und umfaßt,
welches, das Produkt zahlloser Factoren, ihnen erst ihre Stelle und ihre Be¬
deutung anweist.

Nun können allerdings, wie schon bemerkt, schriftstellerische Persönlich¬
keiten, gerade wie politische, sehr wohl zum Gegenstande einer gesonderten
Betrachtung gemacht werden, und Julian Schmidt selbst hat vortreffliche
Muster dieser Darstellungsgattung gegeben. Natürlich wird es auch hier die
Aufgabe des Darstellenden sein, die Beziehungen des Einzelnen zu den Strö¬
mungen seiner Zeit darzulegen, da ohne die Kenntniß der allgemeinen Ent¬
wickelung die Entwickelung eines bedeutenden Individuums sich gar nicht ver¬
stehen läßt. Aber in der monographischen Darstellung kann und darf das
Allgemeine immer nur episodisch, in einleitenden und erläuternden Betrach¬
tungen, kurz und gedrängt, behandelt werden, es hat sich dem individuellen,
dem persönlichen Element unterzuordnen. In der' Literaturgeschichte
aber ist die Darstellung der geistigen und socialen Strömungen die Haupt¬
sache, sie bildet den Rahmen, in den die einzelnen Gestalten sich einzufügen
haben. Scheinbar wird allerdings auch hier, sobald die Darstellung den Epoche
machenden Persönlichkeiten sich zuwendet, das Allgemeine vor dem Indivi¬
duellen in den Hintergrund treten, aber doch nur scheinbar, denn wenn die
Darstellung sich auf Persönlichkeiten, wie Voltaire und Rousseau, oder wie
Lessing, Goethe und Schiller concentrirt, so ist sie dazu nur deshalb berechtigt,
oder vielmehr genöthigt, weil in diesen Persönlichkeiten gewisse Richtungen
der Zeit sich concentrirt haben, weil die Darstellung ihres literarischen Wir¬
kens zugleich eine Darstellung jener Richtungen ist, und weil die Richtungen
überhaupt nur in dem Spiegelbilde dieser Persönlichkeiten zur Anschauung
gebracht werden können. Oft aber entzieht sich dann die Bewegung der
Leitung derer, welche sie angeregt haben, neue Richtungen, neue Anschauungen,
neue Kunstformen entwickeln sich, im allgemeinen Wandel wandeln sich auch
die leitenden Geister, sie sind andere geworden, wenn sie sich nach vielleicht
10 Jahren wieder an der Arbeit finden, Zerstreutes zu sammeln, Auseinander
gegangenes zusammenzufassen und zu vereinigen. Gewiß ist auch für die
Literaturgeschichte Goethe eine einheitliche nach ihren eigenen Gesetzen sich
entwickelnde Persönlichkeit', nichts destoweniger aber wird sie die einzelnen


Heroen der Politik von den Strömen fortgerissen, deren Quelle sie selbst erst
mit ihrem Zauberstabe geöffnet haben. Es besteht in der Literatur- wie in
der politischen Geschichte eine ununterbrochene Wechselwirkung zwischen dem
Allgemeinen und dem Einzelnen, Was heut bedingend war, wird morgen
durch seine eignen Wirkungen bedingt, um dann selbst wieder bedingend zu
wirken. Aber bei dieser Wechselwirkung zwischen dem Allgemeinen und dem
Einzelnen hat der Geschichtsschreiber den größten Nachdruck auf das
Allgemeine zu legen, welches alle Einzelheiten in sich schließt und umfaßt,
welches, das Produkt zahlloser Factoren, ihnen erst ihre Stelle und ihre Be¬
deutung anweist.

Nun können allerdings, wie schon bemerkt, schriftstellerische Persönlich¬
keiten, gerade wie politische, sehr wohl zum Gegenstande einer gesonderten
Betrachtung gemacht werden, und Julian Schmidt selbst hat vortreffliche
Muster dieser Darstellungsgattung gegeben. Natürlich wird es auch hier die
Aufgabe des Darstellenden sein, die Beziehungen des Einzelnen zu den Strö¬
mungen seiner Zeit darzulegen, da ohne die Kenntniß der allgemeinen Ent¬
wickelung die Entwickelung eines bedeutenden Individuums sich gar nicht ver¬
stehen läßt. Aber in der monographischen Darstellung kann und darf das
Allgemeine immer nur episodisch, in einleitenden und erläuternden Betrach¬
tungen, kurz und gedrängt, behandelt werden, es hat sich dem individuellen,
dem persönlichen Element unterzuordnen. In der' Literaturgeschichte
aber ist die Darstellung der geistigen und socialen Strömungen die Haupt¬
sache, sie bildet den Rahmen, in den die einzelnen Gestalten sich einzufügen
haben. Scheinbar wird allerdings auch hier, sobald die Darstellung den Epoche
machenden Persönlichkeiten sich zuwendet, das Allgemeine vor dem Indivi¬
duellen in den Hintergrund treten, aber doch nur scheinbar, denn wenn die
Darstellung sich auf Persönlichkeiten, wie Voltaire und Rousseau, oder wie
Lessing, Goethe und Schiller concentrirt, so ist sie dazu nur deshalb berechtigt,
oder vielmehr genöthigt, weil in diesen Persönlichkeiten gewisse Richtungen
der Zeit sich concentrirt haben, weil die Darstellung ihres literarischen Wir¬
kens zugleich eine Darstellung jener Richtungen ist, und weil die Richtungen
überhaupt nur in dem Spiegelbilde dieser Persönlichkeiten zur Anschauung
gebracht werden können. Oft aber entzieht sich dann die Bewegung der
Leitung derer, welche sie angeregt haben, neue Richtungen, neue Anschauungen,
neue Kunstformen entwickeln sich, im allgemeinen Wandel wandeln sich auch
die leitenden Geister, sie sind andere geworden, wenn sie sich nach vielleicht
10 Jahren wieder an der Arbeit finden, Zerstreutes zu sammeln, Auseinander
gegangenes zusammenzufassen und zu vereinigen. Gewiß ist auch für die
Literaturgeschichte Goethe eine einheitliche nach ihren eigenen Gesetzen sich
entwickelnde Persönlichkeit', nichts destoweniger aber wird sie die einzelnen


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[0186] Heroen der Politik von den Strömen fortgerissen, deren Quelle sie selbst erst mit ihrem Zauberstabe geöffnet haben. Es besteht in der Literatur- wie in der politischen Geschichte eine ununterbrochene Wechselwirkung zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen, Was heut bedingend war, wird morgen durch seine eignen Wirkungen bedingt, um dann selbst wieder bedingend zu wirken. Aber bei dieser Wechselwirkung zwischen dem Allgemeinen und dem Einzelnen hat der Geschichtsschreiber den größten Nachdruck auf das Allgemeine zu legen, welches alle Einzelheiten in sich schließt und umfaßt, welches, das Produkt zahlloser Factoren, ihnen erst ihre Stelle und ihre Be¬ deutung anweist. Nun können allerdings, wie schon bemerkt, schriftstellerische Persönlich¬ keiten, gerade wie politische, sehr wohl zum Gegenstande einer gesonderten Betrachtung gemacht werden, und Julian Schmidt selbst hat vortreffliche Muster dieser Darstellungsgattung gegeben. Natürlich wird es auch hier die Aufgabe des Darstellenden sein, die Beziehungen des Einzelnen zu den Strö¬ mungen seiner Zeit darzulegen, da ohne die Kenntniß der allgemeinen Ent¬ wickelung die Entwickelung eines bedeutenden Individuums sich gar nicht ver¬ stehen läßt. Aber in der monographischen Darstellung kann und darf das Allgemeine immer nur episodisch, in einleitenden und erläuternden Betrach¬ tungen, kurz und gedrängt, behandelt werden, es hat sich dem individuellen, dem persönlichen Element unterzuordnen. In der' Literaturgeschichte aber ist die Darstellung der geistigen und socialen Strömungen die Haupt¬ sache, sie bildet den Rahmen, in den die einzelnen Gestalten sich einzufügen haben. Scheinbar wird allerdings auch hier, sobald die Darstellung den Epoche machenden Persönlichkeiten sich zuwendet, das Allgemeine vor dem Indivi¬ duellen in den Hintergrund treten, aber doch nur scheinbar, denn wenn die Darstellung sich auf Persönlichkeiten, wie Voltaire und Rousseau, oder wie Lessing, Goethe und Schiller concentrirt, so ist sie dazu nur deshalb berechtigt, oder vielmehr genöthigt, weil in diesen Persönlichkeiten gewisse Richtungen der Zeit sich concentrirt haben, weil die Darstellung ihres literarischen Wir¬ kens zugleich eine Darstellung jener Richtungen ist, und weil die Richtungen überhaupt nur in dem Spiegelbilde dieser Persönlichkeiten zur Anschauung gebracht werden können. Oft aber entzieht sich dann die Bewegung der Leitung derer, welche sie angeregt haben, neue Richtungen, neue Anschauungen, neue Kunstformen entwickeln sich, im allgemeinen Wandel wandeln sich auch die leitenden Geister, sie sind andere geworden, wenn sie sich nach vielleicht 10 Jahren wieder an der Arbeit finden, Zerstreutes zu sammeln, Auseinander gegangenes zusammenzufassen und zu vereinigen. Gewiß ist auch für die Literaturgeschichte Goethe eine einheitliche nach ihren eigenen Gesetzen sich entwickelnde Persönlichkeit', nichts destoweniger aber wird sie die einzelnen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/186>, abgerufen am 06.02.2025.