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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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Ihr vergesset,
Wer Ihr seid, und wer ich bin!

Wie wohl hätte das Othello gethan! Und wie hätte es ihn zur Besin¬
nung gebracht, wenn Desdemona seinem Verhör nach ihrer Schuld mit dem
vollen Muth des reinen Bewußtseins, mit einem Funken von weiblichem Stolz
und vor Allem auch mit der Offenheit entgegengetreten wäre, die sich für
Othello's Gattin ziemte! Es ist wahr, auch er hat die Pflicht des Ver¬
trauens verletzt -- jenes völligen Vertrauens der Liebe, das "wider die Hoff¬
nung hofft" und nichts verloren giebt, so lange noch ein Zweifel möglich ist.
Othello's Jnquisitorium mit Desdemona ist das Verhör eines Untersuchungs¬
richters, der die Schuld des Angeklagten schon als erwiesen voraussetzt und
ihn mit bösen Worten einschüchtert. Ihn trifft der schlimmere Borwurf: er
war ein gereifter Mann, sie eine Rosenknospe, die sich erst in seiner Hut zur
Blume entfalten sollte. Ihn trifft darum auch das härtere Geschick -- eins
der härtesten wohl> daß sich denken läßt: das Bewußtsein, gefoltert und hinge¬
mordet zu haben die süße Unschuld, die ihm über Alles theuer war, ihn über
Alles liebte, noch im Tode segnete und schonte. Aber auch sie liebte ihn, wie
Othello von sich selber sagt: not ni8ol^, KM den> voll. Mochten alle Andren
vor ihm zittern, sie nicht, denn sie war sein Weib! Wie an Othello's männ¬
lichem Vertrauen alle Pfeile Jago's abprallen mußten, so lange er seine
Gattin nicht gehört hatte: so hätte Desdemona auf den edlen Sinn
und die Liebe des Gatten bauen, unerschütterlich vertrauen sollen, daß seine
gerechte Güte bald auf ihre Seite treten werde, wenn sie den Sturm offen
und muthig beschwor. Nicht die List der Isolde"), nicht der weltgewandte
Mutterwitz der Portia wären hier Vonnöthen gewesen, -- diese hätten anch
der Natur Desdemona's fern gelegen: der ehrliche Muth der Unschuld war
genug. Statt dessen thut Desdemona das Aergste und das Thörichtste: sie
ladet auf sich die schlimmste der feineren Vergehungen, welche die Ehe zer¬
stören, indem sie ihren Gatten belügt. Dieselbe kindische, würdelose
Furcht, die sie zu der Verstellung gegen ihren Vater getrieben und ihr dort
das Verderben gesäet hatte, läßt es hier in üppige Halme schießen. Wie konnte
nun Othello den Betheuerungen ihrer Unschuld noch Glauben schenken? Er
sah, sie täuschte ihren Gatten: wenn in dem einen Fall, warum nicht in dem
andern? Jetzt müßten wir ihn wegen' seines Mißtrauens sogar frei¬
sprechen, wenn er nicht die Schüchternheit der Desdemona, die er in ihrem
Verhalten gegen Brabantio beobachtet, gekannt und sie durch sein jähes Wesen
ins Spiel gebracht hätte.

In der Lüge haben das dunkle Gefühl der mythenbildenden Volksseele
und die klare Empfindung der eminentester humanen Charaktere die Quelle



*) wie Gervinus meint.
Ihr vergesset,
Wer Ihr seid, und wer ich bin!

Wie wohl hätte das Othello gethan! Und wie hätte es ihn zur Besin¬
nung gebracht, wenn Desdemona seinem Verhör nach ihrer Schuld mit dem
vollen Muth des reinen Bewußtseins, mit einem Funken von weiblichem Stolz
und vor Allem auch mit der Offenheit entgegengetreten wäre, die sich für
Othello's Gattin ziemte! Es ist wahr, auch er hat die Pflicht des Ver¬
trauens verletzt — jenes völligen Vertrauens der Liebe, das „wider die Hoff¬
nung hofft" und nichts verloren giebt, so lange noch ein Zweifel möglich ist.
Othello's Jnquisitorium mit Desdemona ist das Verhör eines Untersuchungs¬
richters, der die Schuld des Angeklagten schon als erwiesen voraussetzt und
ihn mit bösen Worten einschüchtert. Ihn trifft der schlimmere Borwurf: er
war ein gereifter Mann, sie eine Rosenknospe, die sich erst in seiner Hut zur
Blume entfalten sollte. Ihn trifft darum auch das härtere Geschick — eins
der härtesten wohl> daß sich denken läßt: das Bewußtsein, gefoltert und hinge¬
mordet zu haben die süße Unschuld, die ihm über Alles theuer war, ihn über
Alles liebte, noch im Tode segnete und schonte. Aber auch sie liebte ihn, wie
Othello von sich selber sagt: not ni8ol^, KM den> voll. Mochten alle Andren
vor ihm zittern, sie nicht, denn sie war sein Weib! Wie an Othello's männ¬
lichem Vertrauen alle Pfeile Jago's abprallen mußten, so lange er seine
Gattin nicht gehört hatte: so hätte Desdemona auf den edlen Sinn
und die Liebe des Gatten bauen, unerschütterlich vertrauen sollen, daß seine
gerechte Güte bald auf ihre Seite treten werde, wenn sie den Sturm offen
und muthig beschwor. Nicht die List der Isolde"), nicht der weltgewandte
Mutterwitz der Portia wären hier Vonnöthen gewesen, — diese hätten anch
der Natur Desdemona's fern gelegen: der ehrliche Muth der Unschuld war
genug. Statt dessen thut Desdemona das Aergste und das Thörichtste: sie
ladet auf sich die schlimmste der feineren Vergehungen, welche die Ehe zer¬
stören, indem sie ihren Gatten belügt. Dieselbe kindische, würdelose
Furcht, die sie zu der Verstellung gegen ihren Vater getrieben und ihr dort
das Verderben gesäet hatte, läßt es hier in üppige Halme schießen. Wie konnte
nun Othello den Betheuerungen ihrer Unschuld noch Glauben schenken? Er
sah, sie täuschte ihren Gatten: wenn in dem einen Fall, warum nicht in dem
andern? Jetzt müßten wir ihn wegen' seines Mißtrauens sogar frei¬
sprechen, wenn er nicht die Schüchternheit der Desdemona, die er in ihrem
Verhalten gegen Brabantio beobachtet, gekannt und sie durch sein jähes Wesen
ins Spiel gebracht hätte.

In der Lüge haben das dunkle Gefühl der mythenbildenden Volksseele
und die klare Empfindung der eminentester humanen Charaktere die Quelle



*) wie Gervinus meint.
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[0139] Ihr vergesset, Wer Ihr seid, und wer ich bin! Wie wohl hätte das Othello gethan! Und wie hätte es ihn zur Besin¬ nung gebracht, wenn Desdemona seinem Verhör nach ihrer Schuld mit dem vollen Muth des reinen Bewußtseins, mit einem Funken von weiblichem Stolz und vor Allem auch mit der Offenheit entgegengetreten wäre, die sich für Othello's Gattin ziemte! Es ist wahr, auch er hat die Pflicht des Ver¬ trauens verletzt — jenes völligen Vertrauens der Liebe, das „wider die Hoff¬ nung hofft" und nichts verloren giebt, so lange noch ein Zweifel möglich ist. Othello's Jnquisitorium mit Desdemona ist das Verhör eines Untersuchungs¬ richters, der die Schuld des Angeklagten schon als erwiesen voraussetzt und ihn mit bösen Worten einschüchtert. Ihn trifft der schlimmere Borwurf: er war ein gereifter Mann, sie eine Rosenknospe, die sich erst in seiner Hut zur Blume entfalten sollte. Ihn trifft darum auch das härtere Geschick — eins der härtesten wohl> daß sich denken läßt: das Bewußtsein, gefoltert und hinge¬ mordet zu haben die süße Unschuld, die ihm über Alles theuer war, ihn über Alles liebte, noch im Tode segnete und schonte. Aber auch sie liebte ihn, wie Othello von sich selber sagt: not ni8ol^, KM den> voll. Mochten alle Andren vor ihm zittern, sie nicht, denn sie war sein Weib! Wie an Othello's männ¬ lichem Vertrauen alle Pfeile Jago's abprallen mußten, so lange er seine Gattin nicht gehört hatte: so hätte Desdemona auf den edlen Sinn und die Liebe des Gatten bauen, unerschütterlich vertrauen sollen, daß seine gerechte Güte bald auf ihre Seite treten werde, wenn sie den Sturm offen und muthig beschwor. Nicht die List der Isolde"), nicht der weltgewandte Mutterwitz der Portia wären hier Vonnöthen gewesen, — diese hätten anch der Natur Desdemona's fern gelegen: der ehrliche Muth der Unschuld war genug. Statt dessen thut Desdemona das Aergste und das Thörichtste: sie ladet auf sich die schlimmste der feineren Vergehungen, welche die Ehe zer¬ stören, indem sie ihren Gatten belügt. Dieselbe kindische, würdelose Furcht, die sie zu der Verstellung gegen ihren Vater getrieben und ihr dort das Verderben gesäet hatte, läßt es hier in üppige Halme schießen. Wie konnte nun Othello den Betheuerungen ihrer Unschuld noch Glauben schenken? Er sah, sie täuschte ihren Gatten: wenn in dem einen Fall, warum nicht in dem andern? Jetzt müßten wir ihn wegen' seines Mißtrauens sogar frei¬ sprechen, wenn er nicht die Schüchternheit der Desdemona, die er in ihrem Verhalten gegen Brabantio beobachtet, gekannt und sie durch sein jähes Wesen ins Spiel gebracht hätte. In der Lüge haben das dunkle Gefühl der mythenbildenden Volksseele und die klare Empfindung der eminentester humanen Charaktere die Quelle *) wie Gervinus meint.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/139>, abgerufen am 06.02.2025.