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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

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aller Niedrigkeit und Unseligkeit entdeckt. Für ein Volk wie für den Ein¬
zelnen ist der Grad, in dem sie von der Lüge frei sind, ein Werthmesser.
Für die innigste Gemeinschaft des Lebens, für die Ehe, ist sie ein fressendes
Gift. Sie zerstört den Boden, in dem die Ehe ihre Wurzeln treibt, das
völlige Vertrauen. -- Doch selbst die Engländer reden entschuldigend von
einer pinto lie, und es wäre rigoristische Pedanterie, alle Arten der bewußten
Abweichung von der Wahrheit auf eine Linie zu stellen, oder zu leugnen, daß
es sehr harmlose, unschuldig diplomatische Lügen geben kann, ja solche, die
den Himmel verdienen. Allein die unschuldig diplomatische Lüge darf nicht
den eigenen Vortheil im Auge haben, nur von dem Andern schweren Nach¬
theil abwenden wollen. Desdemona aber lügt aus Angst vor dem Gatten.
Ferner: eine solche "weiße Lüge" glücklich durchzuführen, so daß sie nicht
schlimmeren Schaden stiftet als sie verhüten möchte, dazu gehört eine leicht¬
lebige, weltgewandte Anlage, die Desdemona fehlt: indem sie dergleichen
versucht, geht sie aus ihrem Charakter heraus. Shakespeare selbst
hat, in seiner bekannten Weise, mit Absicht zu jener ersten unheilvollen
Unwahrheit diese zweite in Parallele gestellt, deren Engelsgüte uns entzückt
Der Dichter giebt damit unserer Unterscheidung Recht: auf dem Todtenbett
will Desdemona das Leben des Gatten schützen, in hingebender Selbst'
Vergessenheit'; dort hingegen, wo sie seiner ernsten Frage Wahrheit schuldete,
brach sie die heiligste Pflicht der Ehe, und damit in geistigem Sinne die Ehe
selbst, indem sie, um sich selbst vor dem Gatten zu schützen, die Treue des
Geistes, das Vertrauen verletzt.

Wie Ophelia, wie Gretchen, so ist Desdemona ein naives Weib. In
kindlicher Einfalt und Unerfcchrenheit erblüht, ohne die edle Kraft der weib¬
lichen Würde, sind diese Frauen den Stürmen des Lebens wenig gewachsen,
und an der Seite eines gefährlichen Mannes, den sie nicht ganz verstehen
und nicht hinlänglich zu beeinflussen wissen, gehen sie zu Grunde. All' ihre
Holdseligkeit vermag das Schicksal nicht zu entwaffnen, das auch von dem
Weibe die sittliche That fordert und die Stärke selbständiger Eigenart. In
seiner Schwäche und hingebenden Schutzbedürstigkeit ungemein lieblich, stellt
doch der Gretchentypus keineswegs das weibliche Ideal dar, das ohne ein
höheres Maß geistig-sittlicher Kraft nicht sein kann. Wer von dieser Kraft
nothwendigerweise eine Beeinträchtigung der Weiblichkeit besorgt, der ahnt
nicht, wie der höchste Reiz gerade aus der Verschmelzung der Gegensätze her¬
vorleuchtet.

Daß ..Othello" nicht das Drama der Eifersucht, sondern die Tragö¬
die der Ehe ist, hat schon Ulrici überzeugend dargethan. Die beiden
Hauptpersonen aber in dieser Tragödie gehen nicht an dem zu Grunde, was
sie vor und außer der Ehe gefehlt, sondern an dem, was sie in der Ehe


aller Niedrigkeit und Unseligkeit entdeckt. Für ein Volk wie für den Ein¬
zelnen ist der Grad, in dem sie von der Lüge frei sind, ein Werthmesser.
Für die innigste Gemeinschaft des Lebens, für die Ehe, ist sie ein fressendes
Gift. Sie zerstört den Boden, in dem die Ehe ihre Wurzeln treibt, das
völlige Vertrauen. — Doch selbst die Engländer reden entschuldigend von
einer pinto lie, und es wäre rigoristische Pedanterie, alle Arten der bewußten
Abweichung von der Wahrheit auf eine Linie zu stellen, oder zu leugnen, daß
es sehr harmlose, unschuldig diplomatische Lügen geben kann, ja solche, die
den Himmel verdienen. Allein die unschuldig diplomatische Lüge darf nicht
den eigenen Vortheil im Auge haben, nur von dem Andern schweren Nach¬
theil abwenden wollen. Desdemona aber lügt aus Angst vor dem Gatten.
Ferner: eine solche „weiße Lüge" glücklich durchzuführen, so daß sie nicht
schlimmeren Schaden stiftet als sie verhüten möchte, dazu gehört eine leicht¬
lebige, weltgewandte Anlage, die Desdemona fehlt: indem sie dergleichen
versucht, geht sie aus ihrem Charakter heraus. Shakespeare selbst
hat, in seiner bekannten Weise, mit Absicht zu jener ersten unheilvollen
Unwahrheit diese zweite in Parallele gestellt, deren Engelsgüte uns entzückt
Der Dichter giebt damit unserer Unterscheidung Recht: auf dem Todtenbett
will Desdemona das Leben des Gatten schützen, in hingebender Selbst'
Vergessenheit'; dort hingegen, wo sie seiner ernsten Frage Wahrheit schuldete,
brach sie die heiligste Pflicht der Ehe, und damit in geistigem Sinne die Ehe
selbst, indem sie, um sich selbst vor dem Gatten zu schützen, die Treue des
Geistes, das Vertrauen verletzt.

Wie Ophelia, wie Gretchen, so ist Desdemona ein naives Weib. In
kindlicher Einfalt und Unerfcchrenheit erblüht, ohne die edle Kraft der weib¬
lichen Würde, sind diese Frauen den Stürmen des Lebens wenig gewachsen,
und an der Seite eines gefährlichen Mannes, den sie nicht ganz verstehen
und nicht hinlänglich zu beeinflussen wissen, gehen sie zu Grunde. All' ihre
Holdseligkeit vermag das Schicksal nicht zu entwaffnen, das auch von dem
Weibe die sittliche That fordert und die Stärke selbständiger Eigenart. In
seiner Schwäche und hingebenden Schutzbedürstigkeit ungemein lieblich, stellt
doch der Gretchentypus keineswegs das weibliche Ideal dar, das ohne ein
höheres Maß geistig-sittlicher Kraft nicht sein kann. Wer von dieser Kraft
nothwendigerweise eine Beeinträchtigung der Weiblichkeit besorgt, der ahnt
nicht, wie der höchste Reiz gerade aus der Verschmelzung der Gegensätze her¬
vorleuchtet.

Daß ..Othello" nicht das Drama der Eifersucht, sondern die Tragö¬
die der Ehe ist, hat schon Ulrici überzeugend dargethan. Die beiden
Hauptpersonen aber in dieser Tragödie gehen nicht an dem zu Grunde, was
sie vor und außer der Ehe gefehlt, sondern an dem, was sie in der Ehe


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/140>, abgerufen am 06.02.2025.