Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wast Lebensbedürfniß ist, während die. denen eine Beschränkung ihrer Frei-
heit allenfalls zu statten käme, zu den seichteren Charakteren gehören: so daß
also die Besseren gehemmt werden würden, damit die Geringeren gedeihen
möchten. Othello aber und Desdemona gehören, wie Gervinus anerkannt,
zu den adligen Naturen.

Es ist ebenso interessant wie für die Gegenwart charakteristisch, daß Män¬
ner wie Gervinus und Ulrici diese tiefgreifende ethische Frage ausschließlich
vom Gesichtspunkt der Privatmoral betrachten. Als ob Staat und Ge¬
sellschaft gar kein Interesse, gar keine Stimme dabei hätten, daß eine volle
und echte Ehe, zu der die Grundbedingungen gegeben sind, auch geschlossen
werde; gar nicht berechtigt wären, zu fordern, daß kein Einzelner, auch die
Eltern nicht, seinem Eigenwillen zu Liebe eine solche Ehe solle hindern dürfen!
Und doch sind Staat und Gesellschaft sittliche volkserziehende Mächte, deren
Gedeihen wichtiger ist als die zweifelhaften Ansprüche des Einzelnen.

Hören wir Ulrici. "Desdemona's Liebe", erklärt dieser vorzügliche Aesthe-
tiker (Shakespeare's dramatische Kunst", 3. Aufl., Bd. 2, S. 30), "ist durchaus
sittlicher Natur, ihre Wahl durchaus berechtigt, da sie ... . allen
Anforderungen des Sittengesetzes vollkommen entspricht." Aber gleichwol --
"Othello und Desdemona haben sich vergangen gegen das unverbrüchliche
Recht der Familie, gegen die väterliche Autorität, wider deren Willen das
Kind vom Familienverband .... sich nicht eigenmächtig ablösen kann, ohne
vom schützenden Bande der Sittlichkeit selbst sich zu lösen. Beide haben mit¬
hin Unrecht, aber sie haben Unrecht, indem sie Recht haben."

Aehnlich urtheilt Ulrici von Romeo und Julie (a. a. O., S. 13): "Ihre
Ehe ist eine nicht bloß subjective, sondern objective moralische Nothwendig¬
keit, -- denn man soll die Ehe suchen, wo man wahrhaft liebt; -- aus der
anderen Seite das ebenso vollgültige (!) Recht der Eltern . . .; mithin Recht
und Unrecht so ineinander geflochten, daß das Recht der Liebenden zugleich
ihr Unrecht, ihr heimlicher Ehebund zugleich eine moralische und unmoralische
Handlung ist." Was soll das heißen? Ulrici zu Ehren nehmen wir gern an,
daß hier nur in der Darstellung ein Rest romantisch-speculativer Unnatur
wie ein Gespenst am lichten Tage umgeht, -- ein Rest superklug tüftelnden
Nebelns und Schwebelns, hinübergerettet in die klare Zeit, wo Deutschland sich
auf dem Boden eines festen und freien Staatslebens einzurichten begonnen
hat. Denn die Thorheit halten wir nicht für Ulrici's Meinung, daß ein
Mensch jemals in die Lage kommen könne, auf alle Fälle schweres Unrecht
thun zu müssen, -- eine heilige Pflicht erfüllen zu sollen, während er dadurch
ein gleich heiliges Recht beleidigt. Solche Weltanschauung führt durch ihren
grellen, ätzenden, unversöhnlichen inneren Widerspruch, durch ihre Unfähigkeit,
gedacht zu werden, zum romantischen Wahnsinn; sie würdigt Schicksal


wast Lebensbedürfniß ist, während die. denen eine Beschränkung ihrer Frei-
heit allenfalls zu statten käme, zu den seichteren Charakteren gehören: so daß
also die Besseren gehemmt werden würden, damit die Geringeren gedeihen
möchten. Othello aber und Desdemona gehören, wie Gervinus anerkannt,
zu den adligen Naturen.

Es ist ebenso interessant wie für die Gegenwart charakteristisch, daß Män¬
ner wie Gervinus und Ulrici diese tiefgreifende ethische Frage ausschließlich
vom Gesichtspunkt der Privatmoral betrachten. Als ob Staat und Ge¬
sellschaft gar kein Interesse, gar keine Stimme dabei hätten, daß eine volle
und echte Ehe, zu der die Grundbedingungen gegeben sind, auch geschlossen
werde; gar nicht berechtigt wären, zu fordern, daß kein Einzelner, auch die
Eltern nicht, seinem Eigenwillen zu Liebe eine solche Ehe solle hindern dürfen!
Und doch sind Staat und Gesellschaft sittliche volkserziehende Mächte, deren
Gedeihen wichtiger ist als die zweifelhaften Ansprüche des Einzelnen.

Hören wir Ulrici. „Desdemona's Liebe", erklärt dieser vorzügliche Aesthe-
tiker (Shakespeare's dramatische Kunst", 3. Aufl., Bd. 2, S. 30), „ist durchaus
sittlicher Natur, ihre Wahl durchaus berechtigt, da sie ... . allen
Anforderungen des Sittengesetzes vollkommen entspricht." Aber gleichwol —
„Othello und Desdemona haben sich vergangen gegen das unverbrüchliche
Recht der Familie, gegen die väterliche Autorität, wider deren Willen das
Kind vom Familienverband .... sich nicht eigenmächtig ablösen kann, ohne
vom schützenden Bande der Sittlichkeit selbst sich zu lösen. Beide haben mit¬
hin Unrecht, aber sie haben Unrecht, indem sie Recht haben."

Aehnlich urtheilt Ulrici von Romeo und Julie (a. a. O., S. 13): „Ihre
Ehe ist eine nicht bloß subjective, sondern objective moralische Nothwendig¬
keit, — denn man soll die Ehe suchen, wo man wahrhaft liebt; — aus der
anderen Seite das ebenso vollgültige (!) Recht der Eltern . . .; mithin Recht
und Unrecht so ineinander geflochten, daß das Recht der Liebenden zugleich
ihr Unrecht, ihr heimlicher Ehebund zugleich eine moralische und unmoralische
Handlung ist." Was soll das heißen? Ulrici zu Ehren nehmen wir gern an,
daß hier nur in der Darstellung ein Rest romantisch-speculativer Unnatur
wie ein Gespenst am lichten Tage umgeht, — ein Rest superklug tüftelnden
Nebelns und Schwebelns, hinübergerettet in die klare Zeit, wo Deutschland sich
auf dem Boden eines festen und freien Staatslebens einzurichten begonnen
hat. Denn die Thorheit halten wir nicht für Ulrici's Meinung, daß ein
Mensch jemals in die Lage kommen könne, auf alle Fälle schweres Unrecht
thun zu müssen, — eine heilige Pflicht erfüllen zu sollen, während er dadurch
ein gleich heiliges Recht beleidigt. Solche Weltanschauung führt durch ihren
grellen, ätzenden, unversöhnlichen inneren Widerspruch, durch ihre Unfähigkeit,
gedacht zu werden, zum romantischen Wahnsinn; sie würdigt Schicksal


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0135" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192938"/>
          <p xml:id="ID_405" prev="#ID_404"> wast Lebensbedürfniß ist, während die. denen eine Beschränkung ihrer Frei-<lb/>
heit allenfalls zu statten käme, zu den seichteren Charakteren gehören: so daß<lb/>
also die Besseren gehemmt werden würden, damit die Geringeren gedeihen<lb/>
möchten. Othello aber und Desdemona gehören, wie Gervinus anerkannt,<lb/>
zu den adligen Naturen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_406"> Es ist ebenso interessant wie für die Gegenwart charakteristisch, daß Män¬<lb/>
ner wie Gervinus und Ulrici diese tiefgreifende ethische Frage ausschließlich<lb/>
vom Gesichtspunkt der Privatmoral betrachten. Als ob Staat und Ge¬<lb/>
sellschaft gar kein Interesse, gar keine Stimme dabei hätten, daß eine volle<lb/>
und echte Ehe, zu der die Grundbedingungen gegeben sind, auch geschlossen<lb/>
werde; gar nicht berechtigt wären, zu fordern, daß kein Einzelner, auch die<lb/>
Eltern nicht, seinem Eigenwillen zu Liebe eine solche Ehe solle hindern dürfen!<lb/>
Und doch sind Staat und Gesellschaft sittliche volkserziehende Mächte, deren<lb/>
Gedeihen wichtiger ist als die zweifelhaften Ansprüche des Einzelnen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_407"> Hören wir Ulrici. &#x201E;Desdemona's Liebe", erklärt dieser vorzügliche Aesthe-<lb/>
tiker (Shakespeare's dramatische Kunst", 3. Aufl., Bd. 2, S. 30), &#x201E;ist durchaus<lb/>
sittlicher Natur, ihre Wahl durchaus berechtigt, da sie ... . allen<lb/>
Anforderungen des Sittengesetzes vollkommen entspricht." Aber gleichwol &#x2014;<lb/>
&#x201E;Othello und Desdemona haben sich vergangen gegen das unverbrüchliche<lb/>
Recht der Familie, gegen die väterliche Autorität, wider deren Willen das<lb/>
Kind vom Familienverband .... sich nicht eigenmächtig ablösen kann, ohne<lb/>
vom schützenden Bande der Sittlichkeit selbst sich zu lösen. Beide haben mit¬<lb/>
hin Unrecht, aber sie haben Unrecht, indem sie Recht haben."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_408" next="#ID_409"> Aehnlich urtheilt Ulrici von Romeo und Julie (a. a. O., S. 13): &#x201E;Ihre<lb/>
Ehe ist eine nicht bloß subjective, sondern objective moralische Nothwendig¬<lb/>
keit, &#x2014; denn man soll die Ehe suchen, wo man wahrhaft liebt; &#x2014; aus der<lb/>
anderen Seite das ebenso vollgültige (!) Recht der Eltern . . .; mithin Recht<lb/>
und Unrecht so ineinander geflochten, daß das Recht der Liebenden zugleich<lb/>
ihr Unrecht, ihr heimlicher Ehebund zugleich eine moralische und unmoralische<lb/>
Handlung ist." Was soll das heißen? Ulrici zu Ehren nehmen wir gern an,<lb/>
daß hier nur in der Darstellung ein Rest romantisch-speculativer Unnatur<lb/>
wie ein Gespenst am lichten Tage umgeht, &#x2014; ein Rest superklug tüftelnden<lb/>
Nebelns und Schwebelns, hinübergerettet in die klare Zeit, wo Deutschland sich<lb/>
auf dem Boden eines festen und freien Staatslebens einzurichten begonnen<lb/>
hat. Denn die Thorheit halten wir nicht für Ulrici's Meinung, daß ein<lb/>
Mensch jemals in die Lage kommen könne, auf alle Fälle schweres Unrecht<lb/>
thun zu müssen, &#x2014; eine heilige Pflicht erfüllen zu sollen, während er dadurch<lb/>
ein gleich heiliges Recht beleidigt. Solche Weltanschauung führt durch ihren<lb/>
grellen, ätzenden, unversöhnlichen inneren Widerspruch, durch ihre Unfähigkeit,<lb/>
gedacht zu werden, zum romantischen Wahnsinn; sie würdigt Schicksal</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0135] wast Lebensbedürfniß ist, während die. denen eine Beschränkung ihrer Frei- heit allenfalls zu statten käme, zu den seichteren Charakteren gehören: so daß also die Besseren gehemmt werden würden, damit die Geringeren gedeihen möchten. Othello aber und Desdemona gehören, wie Gervinus anerkannt, zu den adligen Naturen. Es ist ebenso interessant wie für die Gegenwart charakteristisch, daß Män¬ ner wie Gervinus und Ulrici diese tiefgreifende ethische Frage ausschließlich vom Gesichtspunkt der Privatmoral betrachten. Als ob Staat und Ge¬ sellschaft gar kein Interesse, gar keine Stimme dabei hätten, daß eine volle und echte Ehe, zu der die Grundbedingungen gegeben sind, auch geschlossen werde; gar nicht berechtigt wären, zu fordern, daß kein Einzelner, auch die Eltern nicht, seinem Eigenwillen zu Liebe eine solche Ehe solle hindern dürfen! Und doch sind Staat und Gesellschaft sittliche volkserziehende Mächte, deren Gedeihen wichtiger ist als die zweifelhaften Ansprüche des Einzelnen. Hören wir Ulrici. „Desdemona's Liebe", erklärt dieser vorzügliche Aesthe- tiker (Shakespeare's dramatische Kunst", 3. Aufl., Bd. 2, S. 30), „ist durchaus sittlicher Natur, ihre Wahl durchaus berechtigt, da sie ... . allen Anforderungen des Sittengesetzes vollkommen entspricht." Aber gleichwol — „Othello und Desdemona haben sich vergangen gegen das unverbrüchliche Recht der Familie, gegen die väterliche Autorität, wider deren Willen das Kind vom Familienverband .... sich nicht eigenmächtig ablösen kann, ohne vom schützenden Bande der Sittlichkeit selbst sich zu lösen. Beide haben mit¬ hin Unrecht, aber sie haben Unrecht, indem sie Recht haben." Aehnlich urtheilt Ulrici von Romeo und Julie (a. a. O., S. 13): „Ihre Ehe ist eine nicht bloß subjective, sondern objective moralische Nothwendig¬ keit, — denn man soll die Ehe suchen, wo man wahrhaft liebt; — aus der anderen Seite das ebenso vollgültige (!) Recht der Eltern . . .; mithin Recht und Unrecht so ineinander geflochten, daß das Recht der Liebenden zugleich ihr Unrecht, ihr heimlicher Ehebund zugleich eine moralische und unmoralische Handlung ist." Was soll das heißen? Ulrici zu Ehren nehmen wir gern an, daß hier nur in der Darstellung ein Rest romantisch-speculativer Unnatur wie ein Gespenst am lichten Tage umgeht, — ein Rest superklug tüftelnden Nebelns und Schwebelns, hinübergerettet in die klare Zeit, wo Deutschland sich auf dem Boden eines festen und freien Staatslebens einzurichten begonnen hat. Denn die Thorheit halten wir nicht für Ulrici's Meinung, daß ein Mensch jemals in die Lage kommen könne, auf alle Fälle schweres Unrecht thun zu müssen, — eine heilige Pflicht erfüllen zu sollen, während er dadurch ein gleich heiliges Recht beleidigt. Solche Weltanschauung führt durch ihren grellen, ätzenden, unversöhnlichen inneren Widerspruch, durch ihre Unfähigkeit, gedacht zu werden, zum romantischen Wahnsinn; sie würdigt Schicksal

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/135
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/135>, abgerufen am 06.02.2025.