Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Vertrauen auf unsere persönlichen und zeitlichen .... Anschauungen einem
solchen Manne gegenüber nicht allzuweit zu gehen. Nicht bloß unsere sittlich¬
socialen Theorien oder Gefühle, sondern vor Allem die Erfahrung sollen
wir zu Rathe ziehen." Diese "liegt mit unsern Theorien vielfach in Widerstreit.
Vielfach aufgewogen werden die tragischen Stoffe, die durch elterliche und
Familienlyrannei in den Schicksalen der Kinder bereitet werden, durch solche,
die in der Willkür der Kinder ihre Quelle haben." (Gewinns, "Shakespeare"
4. Aufl. Bd. 2, S. 43 f.) Also nach Gervinus fragt es sich noch, was sitt¬
lich berechtigter ist: die freie Gattenwahl oder der Anspruch der Familie, die
Eheschließung der Kinder,' wo nicht zu gebieten, doch zu hindern. Leicht
erkennen wir, daß seine Zweifel, abgesehen von dem Götzendienst, den dieser
ausgezeichnete Denker mit dem "einzigen William" treibt, durch die Beobach¬
tung der zahlreichen Fälle erregt werden, in denen während der Uebergangs-
zeit einer Gesellschaft von der Freiheit zur Unfreiheit die Freiheit von den
Kindern mißbraucht wird.

Vollkommen unlogisch ist nun aber der Sprung, den wir Gervinus gleich
in derselben Zeile urplötzlich auf eine ganz verschiedene Seite dieser wichtigen
Lebensfrage thun sehen. Er stellt hier "die billigste und menschlichste Forde¬
rung, daß der Vater bei der ehelichen Wahl wenigstens gehört werde."
Nichts ist gerechter, -- allein das ist doch etwas völlig Anderes! Es sind
doch zwei ganz verschiedene Dinge, ob dem Kinde das Recht zustehen soll,
ohne die Zustimmun g der Eltern eine Ehe zu schließen oder ohne deren Bor¬
wissen. Man kann in dem Einen Gervinus durchaus widersprechen, und
doch in dem Andern ihm von ganzem Herzen beipflichten. Ja man kann die
erstere Ansicht verwerfen und doch zu Gunsten des Elternrechts noch einen
Schritt über die letztere hinausgehen.

Keinem Menschen kann das Recht beiwohnen, den Willen eines Anderen
auf immerdar in den intimsten, innerlichsten Verhältnissen zu beherrschen, über
dessen ganzes Leben die Loose zu werfen, ihn glücklich oder unglücklich zu
machen, ja das Schicksal der dritten Generation zu bestimmen, indem er die
Ehe der zweiten bestimmt. So den Gott auf Erden zu spielen, dazu hat
Niemand das Recht. Oft genug verkennen die Aelteren an Jahren die Bedürf¬
nisse, die Eigenart des heranwachsenden Geschlechts, weil sie sie nicht verstehen.
Die Zukunft dennoch mit Gewalt in den Gesichtskreis der Gegenwart bannen
wollen, das heißt sich verfehlen gegen das große Gesetz der menschlichen Ent¬
wickelung. Gesetzt auch, es verhielte sich so, wie Gervinus behauptet, daß
die wohlthätigen und die nachtheiligen Folgen des Zwanges einander das
Gleichgewicht hielten: so würde bei so gleicher Lage die Bevorzugung des
Zwanges gegen die Achtung vor der menschlichen Freiheit verstoßen. Dabei
übersieht Gervinus ganz, daß gerade den edleren Naturen die freie Gatten-


Vertrauen auf unsere persönlichen und zeitlichen .... Anschauungen einem
solchen Manne gegenüber nicht allzuweit zu gehen. Nicht bloß unsere sittlich¬
socialen Theorien oder Gefühle, sondern vor Allem die Erfahrung sollen
wir zu Rathe ziehen." Diese „liegt mit unsern Theorien vielfach in Widerstreit.
Vielfach aufgewogen werden die tragischen Stoffe, die durch elterliche und
Familienlyrannei in den Schicksalen der Kinder bereitet werden, durch solche,
die in der Willkür der Kinder ihre Quelle haben." (Gewinns, „Shakespeare"
4. Aufl. Bd. 2, S. 43 f.) Also nach Gervinus fragt es sich noch, was sitt¬
lich berechtigter ist: die freie Gattenwahl oder der Anspruch der Familie, die
Eheschließung der Kinder,' wo nicht zu gebieten, doch zu hindern. Leicht
erkennen wir, daß seine Zweifel, abgesehen von dem Götzendienst, den dieser
ausgezeichnete Denker mit dem „einzigen William" treibt, durch die Beobach¬
tung der zahlreichen Fälle erregt werden, in denen während der Uebergangs-
zeit einer Gesellschaft von der Freiheit zur Unfreiheit die Freiheit von den
Kindern mißbraucht wird.

Vollkommen unlogisch ist nun aber der Sprung, den wir Gervinus gleich
in derselben Zeile urplötzlich auf eine ganz verschiedene Seite dieser wichtigen
Lebensfrage thun sehen. Er stellt hier „die billigste und menschlichste Forde¬
rung, daß der Vater bei der ehelichen Wahl wenigstens gehört werde."
Nichts ist gerechter, — allein das ist doch etwas völlig Anderes! Es sind
doch zwei ganz verschiedene Dinge, ob dem Kinde das Recht zustehen soll,
ohne die Zustimmun g der Eltern eine Ehe zu schließen oder ohne deren Bor¬
wissen. Man kann in dem Einen Gervinus durchaus widersprechen, und
doch in dem Andern ihm von ganzem Herzen beipflichten. Ja man kann die
erstere Ansicht verwerfen und doch zu Gunsten des Elternrechts noch einen
Schritt über die letztere hinausgehen.

Keinem Menschen kann das Recht beiwohnen, den Willen eines Anderen
auf immerdar in den intimsten, innerlichsten Verhältnissen zu beherrschen, über
dessen ganzes Leben die Loose zu werfen, ihn glücklich oder unglücklich zu
machen, ja das Schicksal der dritten Generation zu bestimmen, indem er die
Ehe der zweiten bestimmt. So den Gott auf Erden zu spielen, dazu hat
Niemand das Recht. Oft genug verkennen die Aelteren an Jahren die Bedürf¬
nisse, die Eigenart des heranwachsenden Geschlechts, weil sie sie nicht verstehen.
Die Zukunft dennoch mit Gewalt in den Gesichtskreis der Gegenwart bannen
wollen, das heißt sich verfehlen gegen das große Gesetz der menschlichen Ent¬
wickelung. Gesetzt auch, es verhielte sich so, wie Gervinus behauptet, daß
die wohlthätigen und die nachtheiligen Folgen des Zwanges einander das
Gleichgewicht hielten: so würde bei so gleicher Lage die Bevorzugung des
Zwanges gegen die Achtung vor der menschlichen Freiheit verstoßen. Dabei
übersieht Gervinus ganz, daß gerade den edleren Naturen die freie Gatten-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0134" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/192937"/>
          <p xml:id="ID_402" prev="#ID_401"> Vertrauen auf unsere persönlichen und zeitlichen .... Anschauungen einem<lb/>
solchen Manne gegenüber nicht allzuweit zu gehen. Nicht bloß unsere sittlich¬<lb/>
socialen Theorien oder Gefühle, sondern vor Allem die Erfahrung sollen<lb/>
wir zu Rathe ziehen." Diese &#x201E;liegt mit unsern Theorien vielfach in Widerstreit.<lb/>
Vielfach aufgewogen werden die tragischen Stoffe, die durch elterliche und<lb/>
Familienlyrannei in den Schicksalen der Kinder bereitet werden, durch solche,<lb/>
die in der Willkür der Kinder ihre Quelle haben." (Gewinns, &#x201E;Shakespeare"<lb/>
4. Aufl. Bd. 2, S. 43 f.) Also nach Gervinus fragt es sich noch, was sitt¬<lb/>
lich berechtigter ist: die freie Gattenwahl oder der Anspruch der Familie, die<lb/>
Eheschließung der Kinder,' wo nicht zu gebieten, doch zu hindern. Leicht<lb/>
erkennen wir, daß seine Zweifel, abgesehen von dem Götzendienst, den dieser<lb/>
ausgezeichnete Denker mit dem &#x201E;einzigen William" treibt, durch die Beobach¬<lb/>
tung der zahlreichen Fälle erregt werden, in denen während der Uebergangs-<lb/>
zeit einer Gesellschaft von der Freiheit zur Unfreiheit die Freiheit von den<lb/>
Kindern mißbraucht wird.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_403"> Vollkommen unlogisch ist nun aber der Sprung, den wir Gervinus gleich<lb/>
in derselben Zeile urplötzlich auf eine ganz verschiedene Seite dieser wichtigen<lb/>
Lebensfrage thun sehen. Er stellt hier &#x201E;die billigste und menschlichste Forde¬<lb/>
rung, daß der Vater bei der ehelichen Wahl wenigstens gehört werde."<lb/>
Nichts ist gerechter, &#x2014; allein das ist doch etwas völlig Anderes! Es sind<lb/>
doch zwei ganz verschiedene Dinge, ob dem Kinde das Recht zustehen soll,<lb/>
ohne die Zustimmun g der Eltern eine Ehe zu schließen oder ohne deren Bor¬<lb/>
wissen. Man kann in dem Einen Gervinus durchaus widersprechen, und<lb/>
doch in dem Andern ihm von ganzem Herzen beipflichten. Ja man kann die<lb/>
erstere Ansicht verwerfen und doch zu Gunsten des Elternrechts noch einen<lb/>
Schritt über die letztere hinausgehen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_404" next="#ID_405"> Keinem Menschen kann das Recht beiwohnen, den Willen eines Anderen<lb/>
auf immerdar in den intimsten, innerlichsten Verhältnissen zu beherrschen, über<lb/>
dessen ganzes Leben die Loose zu werfen, ihn glücklich oder unglücklich zu<lb/>
machen, ja das Schicksal der dritten Generation zu bestimmen, indem er die<lb/>
Ehe der zweiten bestimmt. So den Gott auf Erden zu spielen, dazu hat<lb/>
Niemand das Recht. Oft genug verkennen die Aelteren an Jahren die Bedürf¬<lb/>
nisse, die Eigenart des heranwachsenden Geschlechts, weil sie sie nicht verstehen.<lb/>
Die Zukunft dennoch mit Gewalt in den Gesichtskreis der Gegenwart bannen<lb/>
wollen, das heißt sich verfehlen gegen das große Gesetz der menschlichen Ent¬<lb/>
wickelung. Gesetzt auch, es verhielte sich so, wie Gervinus behauptet, daß<lb/>
die wohlthätigen und die nachtheiligen Folgen des Zwanges einander das<lb/>
Gleichgewicht hielten: so würde bei so gleicher Lage die Bevorzugung des<lb/>
Zwanges gegen die Achtung vor der menschlichen Freiheit verstoßen. Dabei<lb/>
übersieht Gervinus ganz, daß gerade den edleren Naturen die freie Gatten-</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0134] Vertrauen auf unsere persönlichen und zeitlichen .... Anschauungen einem solchen Manne gegenüber nicht allzuweit zu gehen. Nicht bloß unsere sittlich¬ socialen Theorien oder Gefühle, sondern vor Allem die Erfahrung sollen wir zu Rathe ziehen." Diese „liegt mit unsern Theorien vielfach in Widerstreit. Vielfach aufgewogen werden die tragischen Stoffe, die durch elterliche und Familienlyrannei in den Schicksalen der Kinder bereitet werden, durch solche, die in der Willkür der Kinder ihre Quelle haben." (Gewinns, „Shakespeare" 4. Aufl. Bd. 2, S. 43 f.) Also nach Gervinus fragt es sich noch, was sitt¬ lich berechtigter ist: die freie Gattenwahl oder der Anspruch der Familie, die Eheschließung der Kinder,' wo nicht zu gebieten, doch zu hindern. Leicht erkennen wir, daß seine Zweifel, abgesehen von dem Götzendienst, den dieser ausgezeichnete Denker mit dem „einzigen William" treibt, durch die Beobach¬ tung der zahlreichen Fälle erregt werden, in denen während der Uebergangs- zeit einer Gesellschaft von der Freiheit zur Unfreiheit die Freiheit von den Kindern mißbraucht wird. Vollkommen unlogisch ist nun aber der Sprung, den wir Gervinus gleich in derselben Zeile urplötzlich auf eine ganz verschiedene Seite dieser wichtigen Lebensfrage thun sehen. Er stellt hier „die billigste und menschlichste Forde¬ rung, daß der Vater bei der ehelichen Wahl wenigstens gehört werde." Nichts ist gerechter, — allein das ist doch etwas völlig Anderes! Es sind doch zwei ganz verschiedene Dinge, ob dem Kinde das Recht zustehen soll, ohne die Zustimmun g der Eltern eine Ehe zu schließen oder ohne deren Bor¬ wissen. Man kann in dem Einen Gervinus durchaus widersprechen, und doch in dem Andern ihm von ganzem Herzen beipflichten. Ja man kann die erstere Ansicht verwerfen und doch zu Gunsten des Elternrechts noch einen Schritt über die letztere hinausgehen. Keinem Menschen kann das Recht beiwohnen, den Willen eines Anderen auf immerdar in den intimsten, innerlichsten Verhältnissen zu beherrschen, über dessen ganzes Leben die Loose zu werfen, ihn glücklich oder unglücklich zu machen, ja das Schicksal der dritten Generation zu bestimmen, indem er die Ehe der zweiten bestimmt. So den Gott auf Erden zu spielen, dazu hat Niemand das Recht. Oft genug verkennen die Aelteren an Jahren die Bedürf¬ nisse, die Eigenart des heranwachsenden Geschlechts, weil sie sie nicht verstehen. Die Zukunft dennoch mit Gewalt in den Gesichtskreis der Gegenwart bannen wollen, das heißt sich verfehlen gegen das große Gesetz der menschlichen Ent¬ wickelung. Gesetzt auch, es verhielte sich so, wie Gervinus behauptet, daß die wohlthätigen und die nachtheiligen Folgen des Zwanges einander das Gleichgewicht hielten: so würde bei so gleicher Lage die Bevorzugung des Zwanges gegen die Achtung vor der menschlichen Freiheit verstoßen. Dabei übersieht Gervinus ganz, daß gerade den edleren Naturen die freie Gatten-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/134
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_192802/134>, abgerufen am 06.02.2025.