Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. II. Band.ging dem Knaben hier reiches geistiges Leben auf, unter der väterlich-liebe¬ Bis zum Ausgang der Schulzeit war ihm nur soviel gewiß, daß er So kam Karl Biedermann zu Ostern 1830 auf die Hochschule nach Leip¬ ging dem Knaben hier reiches geistiges Leben auf, unter der väterlich-liebe¬ Bis zum Ausgang der Schulzeit war ihm nur soviel gewiß, daß er So kam Karl Biedermann zu Ostern 1830 auf die Hochschule nach Leip¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0372" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/129898"/> <p xml:id="ID_1218" prev="#ID_1217"> ging dem Knaben hier reiches geistiges Leben auf, unter der väterlich-liebe¬<lb/> vollen Leitung des wackern Pfarrherrn, der überall mehr anregte, als unter¬<lb/> richtete. Die alten Klassiker wurden durchstudirt, eine große Fertigkeit im<lb/> Lateinischsprechen erworben, von der deutschen Literatur Klopstock. Boß.<lb/> Matthisson, etwas Schiller und Körner eifrigst gelesen, eigene poetische Ver¬<lb/> suche von dem Lehrer lebhaft ermuntert. Realien wurden dagegen gar nicht<lb/> getrieben. Die Entscheidung, daß künftig das Studium der Philologie ergriffen<lb/> werden müsse, vernahm der Knabe aus dem Munde des verehrten Lehrers<lb/> mit gläubiger Entschlossenheit. Aus dieser Abgeschiedenheit kam der junge<lb/> Karl Biedermann im fünfzehnten Jahre nach Dresden, in die Prima der<lb/> Kreuzschule. Die ganze Atmosphäre der Schule war eine durch und durch<lb/> philologische, die Auffassung der alten Welt geiht- und geschmackvoll — und<lb/> dennoch wurde hier die vorgefaßte Absicht, Philologie zu studiren, bei dem<lb/> Jüngling aufs äußerste erschüttert. Sicherlich am meisten durch seine plötz¬<lb/> liche Versetzung in größere Weltumgebungen, die ihn überall fremd und doch<lb/> so anziehend anschauten, in deren gesellschaftliche Formen und reale Kennt¬<lb/> nisse sich rasch nachzuleben, ihm ungeheure Mühe verursachte in einem Mo-<lb/> ment. wo auch die strengere Methode des Unterrichts seine gesammelte Kraft<lb/> erforderte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1219"> Bis zum Ausgang der Schulzeit war ihm nur soviel gewiß, daß er<lb/> Theologie und Jurisprudenz bestimmt nicht studiren werde, und Philologie<lb/> nicht mit Freude. Der beste Berather in diesem innern Zwiespalt, Pastor<lb/> Sturz, war ernstlich erkrankt. Gerade in dem entscheidenden Wendepunkte,<lb/> eben als Biedermann die Schule verlassen sollte, starb er. Sein letztes geisti¬<lb/> ges Vermächtniß an den Jüngling war: „der Wissenschaft treu zu bleiben";<lb/> materiell ward es liebevoll unterstützt durch Vergabung des ganzen kleinen<lb/> Nachlasses an den Pfl^gehöhlt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1220" next="#ID_1221"> So kam Karl Biedermann zu Ostern 1830 auf die Hochschule nach Leip¬<lb/> zig, ohne festen Studien- oder Lebensplan. „Der Wissenschaft treu zu blei¬<lb/> ben!" war gewiß seine Absicht. Aber was war Wissenschaft? Die Vor¬<lb/> lesungen von Gottfried Hermann, Theile, Hasse, Wachsmuth, selbst Heinroth<lb/> die er nacheinander in Leipzig besuchte, gewährten ihm alle nicht den wahren<lb/> Schlüssel zu dem innersten Mysterium des Menschenlebens, dem er entgegen-<lb/> strebte. Goethe, namentlich Faust wurde in diesen Jahren zum ersten Mal<lb/> eingehend gelesen, Shakespeares Bedeutung geahnt, wenn auch sein Realis¬<lb/> mus auf den noch durchaus idealen Leser nicht anmuthend wirkte. Ostern 1833<lb/> vertauschte Biedermann Leipzig mit Heidelberg, ohne aus seinen bisherigen<lb/> Universitätsstudien eine sichere Wissensausbeute mitzunehmen. In Heidel¬<lb/> berg ließ er Zachariä und Schlosser auf sich wirken, den Anthropologen Daub<lb/> und den Physiker Munke, und als ihn auch diese nicht voll befriedigten, ward</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0372]
ging dem Knaben hier reiches geistiges Leben auf, unter der väterlich-liebe¬
vollen Leitung des wackern Pfarrherrn, der überall mehr anregte, als unter¬
richtete. Die alten Klassiker wurden durchstudirt, eine große Fertigkeit im
Lateinischsprechen erworben, von der deutschen Literatur Klopstock. Boß.
Matthisson, etwas Schiller und Körner eifrigst gelesen, eigene poetische Ver¬
suche von dem Lehrer lebhaft ermuntert. Realien wurden dagegen gar nicht
getrieben. Die Entscheidung, daß künftig das Studium der Philologie ergriffen
werden müsse, vernahm der Knabe aus dem Munde des verehrten Lehrers
mit gläubiger Entschlossenheit. Aus dieser Abgeschiedenheit kam der junge
Karl Biedermann im fünfzehnten Jahre nach Dresden, in die Prima der
Kreuzschule. Die ganze Atmosphäre der Schule war eine durch und durch
philologische, die Auffassung der alten Welt geiht- und geschmackvoll — und
dennoch wurde hier die vorgefaßte Absicht, Philologie zu studiren, bei dem
Jüngling aufs äußerste erschüttert. Sicherlich am meisten durch seine plötz¬
liche Versetzung in größere Weltumgebungen, die ihn überall fremd und doch
so anziehend anschauten, in deren gesellschaftliche Formen und reale Kennt¬
nisse sich rasch nachzuleben, ihm ungeheure Mühe verursachte in einem Mo-
ment. wo auch die strengere Methode des Unterrichts seine gesammelte Kraft
erforderte.
Bis zum Ausgang der Schulzeit war ihm nur soviel gewiß, daß er
Theologie und Jurisprudenz bestimmt nicht studiren werde, und Philologie
nicht mit Freude. Der beste Berather in diesem innern Zwiespalt, Pastor
Sturz, war ernstlich erkrankt. Gerade in dem entscheidenden Wendepunkte,
eben als Biedermann die Schule verlassen sollte, starb er. Sein letztes geisti¬
ges Vermächtniß an den Jüngling war: „der Wissenschaft treu zu bleiben";
materiell ward es liebevoll unterstützt durch Vergabung des ganzen kleinen
Nachlasses an den Pfl^gehöhlt.
So kam Karl Biedermann zu Ostern 1830 auf die Hochschule nach Leip¬
zig, ohne festen Studien- oder Lebensplan. „Der Wissenschaft treu zu blei¬
ben!" war gewiß seine Absicht. Aber was war Wissenschaft? Die Vor¬
lesungen von Gottfried Hermann, Theile, Hasse, Wachsmuth, selbst Heinroth
die er nacheinander in Leipzig besuchte, gewährten ihm alle nicht den wahren
Schlüssel zu dem innersten Mysterium des Menschenlebens, dem er entgegen-
strebte. Goethe, namentlich Faust wurde in diesen Jahren zum ersten Mal
eingehend gelesen, Shakespeares Bedeutung geahnt, wenn auch sein Realis¬
mus auf den noch durchaus idealen Leser nicht anmuthend wirkte. Ostern 1833
vertauschte Biedermann Leipzig mit Heidelberg, ohne aus seinen bisherigen
Universitätsstudien eine sichere Wissensausbeute mitzunehmen. In Heidel¬
berg ließ er Zachariä und Schlosser auf sich wirken, den Anthropologen Daub
und den Physiker Munke, und als ihn auch diese nicht voll befriedigten, ward
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