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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. II. Band.

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des von 1813 - 1866 besitzen, wie sie die Studien Treitschke's vorbereiten,
werden persönliche Erlebnisse bedeutender nationaler Männer aus jenen De-
cennien uns die deutlichsten Umrisse zur Erfassung des Gesammtbildes jener
Tage liefern. Und unter allen wird kaum ein Leben so klar und ergreifend
zu uns reden, als dasjenige des heutigen Abgeordneten für den 15. Säch¬
sischen Reichstagswahlkreis, und Vertreters der Stadt Chemnitz in der zweiten
Sächsischen Kammer, Karl Biedermann.

Karl Biedermann ist am 25. September 1812 in Leipzig geboren.
Die Kugeln der großen Völkerschlacht schlugen in das Dach des Hauses, in
dem das einjährige Kind krank darniederlag. Den Vater verlor er in der
ersten Kindheit. Der trefflichen Mutter oblag fortan die alleinige Sorge
seines Fortkommens, ihres einzigen Kindes. Sie siedelte mit ihm zuerst nach
Arnsfeld bei Annaberg über, wo sie ihre Mutter in Führung >der Wirth¬
schaft des dortigen Predigers unterstützte, und den Kleinen schon mit vier
Jahren fließend lesen lehrte. Bald aber nahm sie höher im Erzgebirge, in
der Nähe des Städtchens Schwarzenberg, eine Stelle als Wirthschaften" in
einem adeligen Hause an. Hier wurde ihr Söhnchen, namentlich auch im
Unterricht, den Kindern des Hauses gleich gehalten. Dann, nach der Wie-
derverheirathung der Mutter an den Beamten eines benachbarten Eisenwerkes,
folgt eine wildromantische Waldidylle für den kleinen Karl auf einer der ein¬
samsten Höhen des Erzgebirges; mitten in dichtem Fichtenholze stand das
Haus der Eltern. Gleich tüchtig gedeiht dabei die geistige und körperliche
Entwickelung des Knaben bis zum neunten Jahre. Da ward ihm die
Trennung von der geliebten Mutter, ein zweijähriger Aufenthalt in einer
Dresdner Erziehungskaserne aufgenöthigt, an den heute der bejahrte Mann
noch mit Wehmuth und Schrecken zurückdenkt. Heimweh, Herzenskälte Seiten
der Lehrer, brutale Vergewaltigung durch die älteren'Mitschüler, Alles hatte
der arme Knabe in diesen Prüfungsjahren zu erdulden. Das Anerbieten
eines Bekannten der Mutter, des trefflichen Pastor Sturz in Knobelsdorf bei
Waldheim, die Erziehung des Knaben für die nächsten Jahre zu übernehmen,
erlöste den Letzteren aus dem Dresdner Gefängniß. Nach einem kurzen Auf¬
enthalt in der Heimath, ging er an den Ort seiner neuen Bestimmung über.
Auch hier, auf dem einsamen Pfarrhof in einem der einsamsten Dörfer, war
die Abgeschiedenheit von der Welt kaum weniger vollständig, als in den
Dresdner Anstaltsmauern. Menschen erhielt der Knabe sogar noch weniger
zu sehen, als dort. Sein neuer Erzieher, ein öfters kränklicher, aber über¬
aus wohlmeinender Junggeselle, dessen Haushälterin, und sein Mitzögling,
der junge Sohn des Kirchenpatrons des Pastor Sturz, eines Amthaupt¬
manns ä, D. v. Arnstedt, bildeten seinen einzigen täglichen Umgang. Dör¬
fisches Leben kennt jene fruchtbarste Pflege Sachsens kaum. Und dennoch


des von 1813 - 1866 besitzen, wie sie die Studien Treitschke's vorbereiten,
werden persönliche Erlebnisse bedeutender nationaler Männer aus jenen De-
cennien uns die deutlichsten Umrisse zur Erfassung des Gesammtbildes jener
Tage liefern. Und unter allen wird kaum ein Leben so klar und ergreifend
zu uns reden, als dasjenige des heutigen Abgeordneten für den 15. Säch¬
sischen Reichstagswahlkreis, und Vertreters der Stadt Chemnitz in der zweiten
Sächsischen Kammer, Karl Biedermann.

Karl Biedermann ist am 25. September 1812 in Leipzig geboren.
Die Kugeln der großen Völkerschlacht schlugen in das Dach des Hauses, in
dem das einjährige Kind krank darniederlag. Den Vater verlor er in der
ersten Kindheit. Der trefflichen Mutter oblag fortan die alleinige Sorge
seines Fortkommens, ihres einzigen Kindes. Sie siedelte mit ihm zuerst nach
Arnsfeld bei Annaberg über, wo sie ihre Mutter in Führung >der Wirth¬
schaft des dortigen Predigers unterstützte, und den Kleinen schon mit vier
Jahren fließend lesen lehrte. Bald aber nahm sie höher im Erzgebirge, in
der Nähe des Städtchens Schwarzenberg, eine Stelle als Wirthschaften» in
einem adeligen Hause an. Hier wurde ihr Söhnchen, namentlich auch im
Unterricht, den Kindern des Hauses gleich gehalten. Dann, nach der Wie-
derverheirathung der Mutter an den Beamten eines benachbarten Eisenwerkes,
folgt eine wildromantische Waldidylle für den kleinen Karl auf einer der ein¬
samsten Höhen des Erzgebirges; mitten in dichtem Fichtenholze stand das
Haus der Eltern. Gleich tüchtig gedeiht dabei die geistige und körperliche
Entwickelung des Knaben bis zum neunten Jahre. Da ward ihm die
Trennung von der geliebten Mutter, ein zweijähriger Aufenthalt in einer
Dresdner Erziehungskaserne aufgenöthigt, an den heute der bejahrte Mann
noch mit Wehmuth und Schrecken zurückdenkt. Heimweh, Herzenskälte Seiten
der Lehrer, brutale Vergewaltigung durch die älteren'Mitschüler, Alles hatte
der arme Knabe in diesen Prüfungsjahren zu erdulden. Das Anerbieten
eines Bekannten der Mutter, des trefflichen Pastor Sturz in Knobelsdorf bei
Waldheim, die Erziehung des Knaben für die nächsten Jahre zu übernehmen,
erlöste den Letzteren aus dem Dresdner Gefängniß. Nach einem kurzen Auf¬
enthalt in der Heimath, ging er an den Ort seiner neuen Bestimmung über.
Auch hier, auf dem einsamen Pfarrhof in einem der einsamsten Dörfer, war
die Abgeschiedenheit von der Welt kaum weniger vollständig, als in den
Dresdner Anstaltsmauern. Menschen erhielt der Knabe sogar noch weniger
zu sehen, als dort. Sein neuer Erzieher, ein öfters kränklicher, aber über¬
aus wohlmeinender Junggeselle, dessen Haushälterin, und sein Mitzögling,
der junge Sohn des Kirchenpatrons des Pastor Sturz, eines Amthaupt¬
manns ä, D. v. Arnstedt, bildeten seinen einzigen täglichen Umgang. Dör¬
fisches Leben kennt jene fruchtbarste Pflege Sachsens kaum. Und dennoch


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[0371] des von 1813 - 1866 besitzen, wie sie die Studien Treitschke's vorbereiten, werden persönliche Erlebnisse bedeutender nationaler Männer aus jenen De- cennien uns die deutlichsten Umrisse zur Erfassung des Gesammtbildes jener Tage liefern. Und unter allen wird kaum ein Leben so klar und ergreifend zu uns reden, als dasjenige des heutigen Abgeordneten für den 15. Säch¬ sischen Reichstagswahlkreis, und Vertreters der Stadt Chemnitz in der zweiten Sächsischen Kammer, Karl Biedermann. Karl Biedermann ist am 25. September 1812 in Leipzig geboren. Die Kugeln der großen Völkerschlacht schlugen in das Dach des Hauses, in dem das einjährige Kind krank darniederlag. Den Vater verlor er in der ersten Kindheit. Der trefflichen Mutter oblag fortan die alleinige Sorge seines Fortkommens, ihres einzigen Kindes. Sie siedelte mit ihm zuerst nach Arnsfeld bei Annaberg über, wo sie ihre Mutter in Führung >der Wirth¬ schaft des dortigen Predigers unterstützte, und den Kleinen schon mit vier Jahren fließend lesen lehrte. Bald aber nahm sie höher im Erzgebirge, in der Nähe des Städtchens Schwarzenberg, eine Stelle als Wirthschaften» in einem adeligen Hause an. Hier wurde ihr Söhnchen, namentlich auch im Unterricht, den Kindern des Hauses gleich gehalten. Dann, nach der Wie- derverheirathung der Mutter an den Beamten eines benachbarten Eisenwerkes, folgt eine wildromantische Waldidylle für den kleinen Karl auf einer der ein¬ samsten Höhen des Erzgebirges; mitten in dichtem Fichtenholze stand das Haus der Eltern. Gleich tüchtig gedeiht dabei die geistige und körperliche Entwickelung des Knaben bis zum neunten Jahre. Da ward ihm die Trennung von der geliebten Mutter, ein zweijähriger Aufenthalt in einer Dresdner Erziehungskaserne aufgenöthigt, an den heute der bejahrte Mann noch mit Wehmuth und Schrecken zurückdenkt. Heimweh, Herzenskälte Seiten der Lehrer, brutale Vergewaltigung durch die älteren'Mitschüler, Alles hatte der arme Knabe in diesen Prüfungsjahren zu erdulden. Das Anerbieten eines Bekannten der Mutter, des trefflichen Pastor Sturz in Knobelsdorf bei Waldheim, die Erziehung des Knaben für die nächsten Jahre zu übernehmen, erlöste den Letzteren aus dem Dresdner Gefängniß. Nach einem kurzen Auf¬ enthalt in der Heimath, ging er an den Ort seiner neuen Bestimmung über. Auch hier, auf dem einsamen Pfarrhof in einem der einsamsten Dörfer, war die Abgeschiedenheit von der Welt kaum weniger vollständig, als in den Dresdner Anstaltsmauern. Menschen erhielt der Knabe sogar noch weniger zu sehen, als dort. Sein neuer Erzieher, ein öfters kränklicher, aber über¬ aus wohlmeinender Junggeselle, dessen Haushälterin, und sein Mitzögling, der junge Sohn des Kirchenpatrons des Pastor Sturz, eines Amthaupt¬ manns ä, D. v. Arnstedt, bildeten seinen einzigen täglichen Umgang. Dör¬ fisches Leben kennt jene fruchtbarste Pflege Sachsens kaum. Und dennoch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_129525/371>, abgerufen am 11.01.2025.