Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. II. Band.nicht die prophetische Führerin des Menschengeistes, sondern nur eine Denkerin Dieß also, eine solche übertreibende Lobpreisung der Philosophie dürfte Grenzboten II. 1373. 4S
nicht die prophetische Führerin des Menschengeistes, sondern nur eine Denkerin Dieß also, eine solche übertreibende Lobpreisung der Philosophie dürfte Grenzboten II. 1373. 4S
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nicht die prophetische Führerin des Menschengeistes, sondern nur eine Denkerin
und Erklärerin. Was er ohne sie aus den Kräften seines Wesens oder seines
natürlichen Triebes zu Stande gebracht hat, das mag sie uns zusammenfassen,
unter übersichtliche Begriffe bringen und insofern nach seinem' gedankenmäßi¬
gen Gehalt erschließen. Mehr aber wird Niemand von ihr fordern und sie
hat auch niemals mehr geleistet, wenn man von jenen kindlichen Ueberschwäng-
lichkeiten ihrer ersten Pfleger und Entdecker absieht, die doch alle wie die Städte
und Gesetze, die sie schufen, auf Sand gebaut waren. Will man freilich jeden
Gesetzgeber, jeden praktischen Weisen und Bildner der Menschheit zu einem Philo¬
sophen stempeln, dann steht es anders. Dann gelten jene schwungvollen Apostro¬
phen, ja man könnte noch mehr darin thun, als hier geschehen ist. Aber
Sokrates hat doch für alle Zeiten den Unterschied zwischen einem Philosophen
und einem solchen Praktiker festgestellt und schon in dem Namen, den er für seine
Wissenschaft fand, Liebe zur Weisheit, deutlich genug bewiesen, wo ihre Grenzen
liegen. Seitdem sind sie auch nur zu ihrem Schaden überschritten worden, und
die wahre Philosophie hat sich gerade umgekehrt nicht zu einer re^ma,, sondern,
wenn man es recht verstehen will, zu einer aneilla seiLutiarum bekannt.
Dieß also, eine solche übertreibende Lobpreisung der Philosophie dürfte
nicht bloß dem heutigen Leser, sondern überhaupt jedem denkenden Leser jeder
Zeit schwer eingehen. Aber etwas anderes rechnen wir doch dem Buche zu
großem Verdienste an. Es ist die zwar nur beiläufige, dennoch aber in allem
wesentlichen erschöpfende Scheidung der Gebiete der Philosophie, überhaupt
des wissenschaftlichen Denkens und der Religion. Da unsere Gegenwart unläug-
bar mit diesem ernsten und schwierigen Probleme sich viel zu schaffen macht,
weil sie, gleichviel ob gern oder ungern, durch eine stärkere Macht dazu getrieben
wird, so thut jeder ein gutes Werk, der dazu beiträgt, daß die Vorstellungen
über das Verhältniß dieser beiden Großmächte des Geistes zu einander geklärt
und berichtigt werden. Denn insgemein lastet auf ihnen noch ein Wust von
Nacht und Vorurtheil. Die Mehrzahl der gebildeten Zeitgenossen neigt, darüber
täuscht sich nur wer sich täuschen will, dazu, die Religion überhaupt, zunächst
in der Gestalt, in der sie uns am bekanntesten ist, also die christliche, für
etwas antiquirtes zu halten, das höchstens nur noch aus Pietät oder aus Nütz¬
lichkeitsrücksichten Erhaltung verdient und verlangt. An ihre Stelle habe das
Wissen von dem natürlichen Zusammenhange der menschlichen und außermensch¬
lichen Dinge, also Anthropologie sammt den übrigen Naturwissenschaften, zu
treten und als ihre Ergänzung, falls überhaupt eine solche nöthig sei, die
Ethik. Dagegen zeigt dieser Philosoph, energischer als irgend einer seiner Vor¬
gänger, daß diese Ansicht eben nur eine Ansicht und auf völlig unbewiesenen
und unbeweisbaren Voraussetzungen, also recht eigentlich Dogmen im bedenk¬
lichsten Sinne ruhe. Aus der Eigenart der menschlichen Seele, des Gemüths,
Grenzboten II. 1373. 4S
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