Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. II. Band.schaften, dem eigentlichen Maßstabe der damaligen gebildeten Welt, Der schaften, dem eigentlichen Maßstabe der damaligen gebildeten Welt, Der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0358" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/129884"/> <p xml:id="ID_1179" prev="#ID_1178" next="#ID_1180"> schaften, dem eigentlichen Maßstabe der damaligen gebildeten Welt, Der<lb/> ganze englische Deismus, und insofern also auch Shaftesbury. steht auf Locke's<lb/> Schultern, und glaubt sich durch ihn der Mühe überhoben, die Grundfrage<lb/> alles Philosophirens, die Lehre von den Quellen und Grenzen der mensch¬<lb/> lichen Erkenntniß, noch einmal selbständig zu erörtern. Der Deismus aber<lb/> reicht schon am Ende des 17. Jahrhundert nach Holland hinüber und von da<lb/> aus, wo sich länger als ein halbes Jahrhundert alle unabhängigen Geister<lb/> Frankreichs ihr Asyl suchten, auch nach Frankreich. Im Vergleich zu dem<lb/> negativen Materialismus, oder wie man es damals zu nennen pflegte, dem<lb/> Atheismus, der vor dem Deismus die höhere gebildete Gesellschaft Frankreichs,<lb/> und rückwirkend, durch die Restauration dahin verschleppt, auch die Englands<lb/> beherrschte, bedeutet der Deismus einen gewaltigen Fortschritt zur sittlichen<lb/> und intellectuellen Hebung des menschlichen Geistes. Denn jener Atheismus<lb/> oder Materialismus war nicht bloß in seinen theoretischen Voraussetzungen<lb/> von einer völlig ungeschulten Rohheit, wie er es denn damals auch nirgends<lb/> zu einer nur leidlich abgerundeten systematischen oder wissenschaftlichen Dar¬<lb/> stellung gebracht hat, zu der er erst im 18. Jahrhundert durch Aufnahme<lb/> neuer Elemente aus den früheren Systemen, namentlich dem Locke'schen, in<lb/> seiner weiteren Umbildung durch Condillac, und dem Hume'schen Skepticismus<lb/> gelangen konnte. Dieser ältere französisch-englische Materialismus zeichnet<lb/> sich auch durch die wahrhaft grenzenlose Frivolität aus, mit welcher er seine<lb/> theoretischen Principien, die vollständige Verhöhnung alles dessen, was bis¬<lb/> her als Tugend, Ehre und gute Sitte gegolten, in alle Lebensverhältnisse<lb/> einschleppte. Er unterscheidet sich hierin sehr deutlich von seiner späteren<lb/> Metamorphose, dem Naturalismus und Materialismus des 18. Jahrhunderts,<lb/> der ausdrücklich alle jene rohen praktischen Consequenzen von sich abwies, ob-<lb/> wol er sie eigentlich hätte anerkennen müssen. Aber inzwischen war durch die<lb/> deistische Bewegung oder durch die Freidenker von dem nobeln Stempel wie<lb/> Shaftesbury jener entsetzlichen Zügellosigkeit der höheren Gesellschaft ein Ende<lb/> gemacht worden. Es war ein neuer Idealismus, wenn auch auf unzureichen¬<lb/> der Grundlage und mit nebelhaften Umrissen an die Stelle nicht des Mate¬<lb/> rialismus, sondern der einfachen Bestialität gesetzt worden, in der sich das<lb/> gebildete England zur Zeit der Restauration, und nicht minder das gebildete<lb/> Frankreich, soweit es sich damit vor der pharisäischen Gottseligkeit der all¬<lb/> mächtigen Maintenon herauswagte, freilich wie im Schlamm zu wälzen<lb/> pflegte. Dieß große Verdienst der sittlichen Wiederherstellung gebührt Shaftes¬<lb/> bury nicht allein, aber doch zu einem bedeutenden Theile, und deßhalb,<lb/> nicht wegen des wissenschaftlichen Gehaltes ' seiner philosophischen oder viel-<lb/> mehr reflektirenden Schriften, muß er für immer als eine der ehrwürdigen<lb/> Gestalten wirklicher Lehrer und Erzieher der Menschheit gelten. Nicht viel</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0358]
schaften, dem eigentlichen Maßstabe der damaligen gebildeten Welt, Der
ganze englische Deismus, und insofern also auch Shaftesbury. steht auf Locke's
Schultern, und glaubt sich durch ihn der Mühe überhoben, die Grundfrage
alles Philosophirens, die Lehre von den Quellen und Grenzen der mensch¬
lichen Erkenntniß, noch einmal selbständig zu erörtern. Der Deismus aber
reicht schon am Ende des 17. Jahrhundert nach Holland hinüber und von da
aus, wo sich länger als ein halbes Jahrhundert alle unabhängigen Geister
Frankreichs ihr Asyl suchten, auch nach Frankreich. Im Vergleich zu dem
negativen Materialismus, oder wie man es damals zu nennen pflegte, dem
Atheismus, der vor dem Deismus die höhere gebildete Gesellschaft Frankreichs,
und rückwirkend, durch die Restauration dahin verschleppt, auch die Englands
beherrschte, bedeutet der Deismus einen gewaltigen Fortschritt zur sittlichen
und intellectuellen Hebung des menschlichen Geistes. Denn jener Atheismus
oder Materialismus war nicht bloß in seinen theoretischen Voraussetzungen
von einer völlig ungeschulten Rohheit, wie er es denn damals auch nirgends
zu einer nur leidlich abgerundeten systematischen oder wissenschaftlichen Dar¬
stellung gebracht hat, zu der er erst im 18. Jahrhundert durch Aufnahme
neuer Elemente aus den früheren Systemen, namentlich dem Locke'schen, in
seiner weiteren Umbildung durch Condillac, und dem Hume'schen Skepticismus
gelangen konnte. Dieser ältere französisch-englische Materialismus zeichnet
sich auch durch die wahrhaft grenzenlose Frivolität aus, mit welcher er seine
theoretischen Principien, die vollständige Verhöhnung alles dessen, was bis¬
her als Tugend, Ehre und gute Sitte gegolten, in alle Lebensverhältnisse
einschleppte. Er unterscheidet sich hierin sehr deutlich von seiner späteren
Metamorphose, dem Naturalismus und Materialismus des 18. Jahrhunderts,
der ausdrücklich alle jene rohen praktischen Consequenzen von sich abwies, ob-
wol er sie eigentlich hätte anerkennen müssen. Aber inzwischen war durch die
deistische Bewegung oder durch die Freidenker von dem nobeln Stempel wie
Shaftesbury jener entsetzlichen Zügellosigkeit der höheren Gesellschaft ein Ende
gemacht worden. Es war ein neuer Idealismus, wenn auch auf unzureichen¬
der Grundlage und mit nebelhaften Umrissen an die Stelle nicht des Mate¬
rialismus, sondern der einfachen Bestialität gesetzt worden, in der sich das
gebildete England zur Zeit der Restauration, und nicht minder das gebildete
Frankreich, soweit es sich damit vor der pharisäischen Gottseligkeit der all¬
mächtigen Maintenon herauswagte, freilich wie im Schlamm zu wälzen
pflegte. Dieß große Verdienst der sittlichen Wiederherstellung gebührt Shaftes¬
bury nicht allein, aber doch zu einem bedeutenden Theile, und deßhalb,
nicht wegen des wissenschaftlichen Gehaltes ' seiner philosophischen oder viel-
mehr reflektirenden Schriften, muß er für immer als eine der ehrwürdigen
Gestalten wirklicher Lehrer und Erzieher der Menschheit gelten. Nicht viel
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