Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. II. Band.und der Reaktion sich fortbewegt, alle Unabhängigkeit des Denkens, alle Bil¬ Unsere Fortgeschrittener von heute werden darum einem Shaftesbury und der Reaktion sich fortbewegt, alle Unabhängigkeit des Denkens, alle Bil¬ Unsere Fortgeschrittener von heute werden darum einem Shaftesbury <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0357" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/129883"/> <p xml:id="ID_1177" prev="#ID_1176"> und der Reaktion sich fortbewegt, alle Unabhängigkeit des Denkens, alle Bil¬<lb/> dung der Charaktere von innen heraus zu Grunde gehen müsse, daß die Zu¬<lb/> kunft der Deutschen, der allgemein menschlichen Cultur überhaupt von Ge¬<lb/> fahren bedroht sei. die eine allgemeine Barbarei als letztes Ziel des Fort¬<lb/> schritts und Rückschritts in Aussicht stellen. Die Ansätze ihres Exempels sind<lb/> richtig, aber Niemand nimmt sich die Mühe sie zu prüfen, und so erregt<lb/> auch sein Resultat nur Lächeln oder Verstimmung. Sie bringen es nicht ein¬<lb/> mal dahin, was doch der erste Schritt zu einer praktischen Wirksamkeit wäre,<lb/> daß die Zeit sich auf sich selbst besinne, daß die Schaaren der Autoritäts¬<lb/> gläubigen hüben und drüben einmal ein wenig rationalistisch verführen, d. h.<lb/> ihre eigene Vernunft und ihre eigene Seele befragen wollten, ob sie denn<lb/> wirklich so von innen heraus, durch natürliche Wahlverwandtschaft der Em¬<lb/> pfindung oder durch ihre eigenthümliche Art zu reflektiren, veranlaßt sind<lb/> etwa mit dem Christenthum wie sie es nennen, vollständig zu brechen, oder<lb/> auf der andern Seite die ganze Systematik der dogmatischen Anschauungs¬<lb/> weise des 16. und irgend eines früheren Jahrhunderts als das wirklich leben¬<lb/> dige Eigenthum ihres heutigen Selbst anzusprechen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1178" next="#ID_1179"> Unsere Fortgeschrittener von heute werden darum einem Shaftesbury<lb/> höchstens die kühle Hochachtung entgegentragen, die man jedem wohlmeinen¬<lb/> den Streben schuldig zu sein glaubt. Er hat sich selbst einen Freidenker ge¬<lb/> nannt und das. Wort ist durch ihn und seit ihm zu Ehren gekommen, wäh¬<lb/> rend es vorher so anrüchig war, daß es selbst von denen zurückgewiesen wurde,<lb/> denen die Sache zukam und die sich zu ihr bekannten. Er ist der erste in<lb/> jener langen Reihe gebildeter und denkender Männer, die ihren Gegensatz zu<lb/> den herkömmlichen Ideen und Einrichtungen in der Religion und in der Ge¬<lb/> sellschaft ihrer Zeit, nicht dazu mißbrauchten, sich überhaupt von den allge¬<lb/> mein giltigen Gesetzen der Moral und der guten Sitte zu emancipiren. In¬<lb/> sofern bezeichnet er einen großen Wendepunkt in der innern Geschichte Eng¬<lb/> lands oder der englischen Bildung. Diese ist, wie man weiß, gerade damals<lb/> von dem bedeutendsten Einfluß auf das übrige Europa; die Locke'sche Philo¬<lb/> sophie hat in jener für die Erzeugung philosophischer Systeme so überaus<lb/> günstigen Periode, wo sich Descartes, Hobbes, Spinoza und Leibnitz be¬<lb/> rühren, doch unstreitig die größten genetischen Erfolge unter allen gehabt,<lb/> wäg man auch von ihrem spekulativen Werth denken wie man will. Dieser<lb/> Sensualismus, der doch einen gewissen Idealismus nicht ausschloß, harmo-<lb/> nirte zu sehr mit der natürlichen Stimmung der besseren Theile der damaligen<lb/> gebildeten Gesellschaft, für welche ein Descartes und seine Nachfolger zu<lb/> scholastisch, ein Hobbes zu einseitig-fanatisch, ein Spinoza zu schwer verständ¬<lb/> lich und ein Leibnitz zu idealistisch war. Keine andere Philosophie führte auch<lb/> so geradenwegs zu den cracker Wissenschaften, namentlich zu den Naturwissen-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0357]
und der Reaktion sich fortbewegt, alle Unabhängigkeit des Denkens, alle Bil¬
dung der Charaktere von innen heraus zu Grunde gehen müsse, daß die Zu¬
kunft der Deutschen, der allgemein menschlichen Cultur überhaupt von Ge¬
fahren bedroht sei. die eine allgemeine Barbarei als letztes Ziel des Fort¬
schritts und Rückschritts in Aussicht stellen. Die Ansätze ihres Exempels sind
richtig, aber Niemand nimmt sich die Mühe sie zu prüfen, und so erregt
auch sein Resultat nur Lächeln oder Verstimmung. Sie bringen es nicht ein¬
mal dahin, was doch der erste Schritt zu einer praktischen Wirksamkeit wäre,
daß die Zeit sich auf sich selbst besinne, daß die Schaaren der Autoritäts¬
gläubigen hüben und drüben einmal ein wenig rationalistisch verführen, d. h.
ihre eigene Vernunft und ihre eigene Seele befragen wollten, ob sie denn
wirklich so von innen heraus, durch natürliche Wahlverwandtschaft der Em¬
pfindung oder durch ihre eigenthümliche Art zu reflektiren, veranlaßt sind
etwa mit dem Christenthum wie sie es nennen, vollständig zu brechen, oder
auf der andern Seite die ganze Systematik der dogmatischen Anschauungs¬
weise des 16. und irgend eines früheren Jahrhunderts als das wirklich leben¬
dige Eigenthum ihres heutigen Selbst anzusprechen.
Unsere Fortgeschrittener von heute werden darum einem Shaftesbury
höchstens die kühle Hochachtung entgegentragen, die man jedem wohlmeinen¬
den Streben schuldig zu sein glaubt. Er hat sich selbst einen Freidenker ge¬
nannt und das. Wort ist durch ihn und seit ihm zu Ehren gekommen, wäh¬
rend es vorher so anrüchig war, daß es selbst von denen zurückgewiesen wurde,
denen die Sache zukam und die sich zu ihr bekannten. Er ist der erste in
jener langen Reihe gebildeter und denkender Männer, die ihren Gegensatz zu
den herkömmlichen Ideen und Einrichtungen in der Religion und in der Ge¬
sellschaft ihrer Zeit, nicht dazu mißbrauchten, sich überhaupt von den allge¬
mein giltigen Gesetzen der Moral und der guten Sitte zu emancipiren. In¬
sofern bezeichnet er einen großen Wendepunkt in der innern Geschichte Eng¬
lands oder der englischen Bildung. Diese ist, wie man weiß, gerade damals
von dem bedeutendsten Einfluß auf das übrige Europa; die Locke'sche Philo¬
sophie hat in jener für die Erzeugung philosophischer Systeme so überaus
günstigen Periode, wo sich Descartes, Hobbes, Spinoza und Leibnitz be¬
rühren, doch unstreitig die größten genetischen Erfolge unter allen gehabt,
wäg man auch von ihrem spekulativen Werth denken wie man will. Dieser
Sensualismus, der doch einen gewissen Idealismus nicht ausschloß, harmo-
nirte zu sehr mit der natürlichen Stimmung der besseren Theile der damaligen
gebildeten Gesellschaft, für welche ein Descartes und seine Nachfolger zu
scholastisch, ein Hobbes zu einseitig-fanatisch, ein Spinoza zu schwer verständ¬
lich und ein Leibnitz zu idealistisch war. Keine andere Philosophie führte auch
so geradenwegs zu den cracker Wissenschaften, namentlich zu den Naturwissen-
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