Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. II. Band.würden, so mag das manchem, vielleicht weil er zu pedantisch und altmodisch würden, so mag das manchem, vielleicht weil er zu pedantisch und altmodisch <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0356" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/129882"/> <p xml:id="ID_1176" prev="#ID_1175" next="#ID_1177"> würden, so mag das manchem, vielleicht weil er zu pedantisch und altmodisch<lb/> denkt, eine nicht ganz richtige Taktik scheinen. Nicht ganz richtig auch im<lb/> nächsten praktischen Wortsinn, denn die Anziehungskraft des Namens Shaftes'<lb/> bury ist gegenwärtig nicht so groß, wie sie etwa zur Zeit Lessing's oder<lb/> Herder's war. Die wenigsten wissen weiteres von ihm, als daß er einer der<lb/> Häupter des englischen Deismus gewesen ist, und daß der Deismus auf dem<lb/> heutigen Markte nicht mehr große Geschäfte macht, — wird nicht abzuleugnen<lb/> fein. Der Rationalismus vulgaris, der geradenwegs von ihm abstammt, steht<lb/> jetzt auf beiden Seiten, auf der gläubigen und ungläubigen, im ärgsten Mi߬<lb/> kredit. Eine Zeit wie die unsere, deren providentieller Beruf es scheint, die<lb/> Extreme herauszutreiben, — ohne Frage, wie wir uns hinzuzusetzen erlauben,<lb/> um sie dadurch zu corrigiren, da sie, oder vielmehr die Menschen, auf andere<lb/> Art nicht corrigibel sind, als wenn sie an ihrer eigenen Haut aä absuräum<lb/> geführt werden — eine solche Zeit des derbsten und intolerantesten Dogma¬<lb/> tismus der jähen Positionen und Negationen, ist nicht angethan irgend einer<lb/> vermittelnden Richtung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Mehrzahl<lb/> unserer Gebildeten der älteren Generation denkt und empfindet die Welt und<lb/> nicht bloß die religiöse zwar immer noch rationalistisch, aber sie ist entweder<lb/> sich dessen nicht mehr bewußt, oder schämt sich eines Namens, der zu Lessing's<lb/> Zeiten, allerdings ohne seinen jetzigen fatalen Zusatz, als der höchste Ehren¬<lb/> titel einer wahrhaft gebildeten Seele galt. Die jüngere Generation gibt der<lb/> anmaßlich an sie herantretenden Propaganda von hüben und drüben schon<lb/> aus Eitelkeit nach. Sie will doch nicht auf einem längst überholten Stand¬<lb/> punkt stehen in einer Zeit, die den Fortschritt zu ihrem Losungswort gemacht<lb/> hat. , Dieses große Wort allein genügt, um die sonst psychologisch nicht er¬<lb/> klärbare Thatsache vollkommen verständlich zu machen, warum tausende und<lb/> abertausende, deren Seelenconstruktion sie keineswegs dahin führen würde,<lb/> wo sie stehen oder zu stehen glauben, den Reihen des modernsten Positivis¬<lb/> mus, Materialismus oder Pessimismus zuströmen, während nur eine ver-'<lb/> hältnißmäßig geringe Zahl noch oder wieder derjenigen Richtung zu folgen<lb/> wagt, die der Name „Reaktion" jedem, der auf die gute Meinung der An¬<lb/> dern etwas gibt, allzu verdächtig macht. Noch geringer freilich ist die Zahl<lb/> derjenigen, die parteilos zu sein vermögen, ohne indifferent oder völlig gleich-<lb/> giltig gegen die allgemeineren, die Geister der Zeitgenossen bewegenden Pro¬<lb/> bleme zu sein. Was hilft es ihnen, oder was hilft es der Zeit, wenn sie<lb/> durch ihr unabhängiges Denken die Einseitigkeit der Tagesdogmen erkennen<lb/> und deduciren? Niemand hört auf sie, niemand liest ihre Bücher, oder, es<lb/> findet sich nicht einmal in dem großen Deutschland ein Verleger, der sie<lb/> ihnen drucken würde. Sie haben gut psychologisch und historisch bewiesen,<lb/> daß. wenn die Gegenwart noch weiter auf derselben Bahn des Fortschritts</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0356]
würden, so mag das manchem, vielleicht weil er zu pedantisch und altmodisch
denkt, eine nicht ganz richtige Taktik scheinen. Nicht ganz richtig auch im
nächsten praktischen Wortsinn, denn die Anziehungskraft des Namens Shaftes'
bury ist gegenwärtig nicht so groß, wie sie etwa zur Zeit Lessing's oder
Herder's war. Die wenigsten wissen weiteres von ihm, als daß er einer der
Häupter des englischen Deismus gewesen ist, und daß der Deismus auf dem
heutigen Markte nicht mehr große Geschäfte macht, — wird nicht abzuleugnen
fein. Der Rationalismus vulgaris, der geradenwegs von ihm abstammt, steht
jetzt auf beiden Seiten, auf der gläubigen und ungläubigen, im ärgsten Mi߬
kredit. Eine Zeit wie die unsere, deren providentieller Beruf es scheint, die
Extreme herauszutreiben, — ohne Frage, wie wir uns hinzuzusetzen erlauben,
um sie dadurch zu corrigiren, da sie, oder vielmehr die Menschen, auf andere
Art nicht corrigibel sind, als wenn sie an ihrer eigenen Haut aä absuräum
geführt werden — eine solche Zeit des derbsten und intolerantesten Dogma¬
tismus der jähen Positionen und Negationen, ist nicht angethan irgend einer
vermittelnden Richtung Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Mehrzahl
unserer Gebildeten der älteren Generation denkt und empfindet die Welt und
nicht bloß die religiöse zwar immer noch rationalistisch, aber sie ist entweder
sich dessen nicht mehr bewußt, oder schämt sich eines Namens, der zu Lessing's
Zeiten, allerdings ohne seinen jetzigen fatalen Zusatz, als der höchste Ehren¬
titel einer wahrhaft gebildeten Seele galt. Die jüngere Generation gibt der
anmaßlich an sie herantretenden Propaganda von hüben und drüben schon
aus Eitelkeit nach. Sie will doch nicht auf einem längst überholten Stand¬
punkt stehen in einer Zeit, die den Fortschritt zu ihrem Losungswort gemacht
hat. , Dieses große Wort allein genügt, um die sonst psychologisch nicht er¬
klärbare Thatsache vollkommen verständlich zu machen, warum tausende und
abertausende, deren Seelenconstruktion sie keineswegs dahin führen würde,
wo sie stehen oder zu stehen glauben, den Reihen des modernsten Positivis¬
mus, Materialismus oder Pessimismus zuströmen, während nur eine ver-'
hältnißmäßig geringe Zahl noch oder wieder derjenigen Richtung zu folgen
wagt, die der Name „Reaktion" jedem, der auf die gute Meinung der An¬
dern etwas gibt, allzu verdächtig macht. Noch geringer freilich ist die Zahl
derjenigen, die parteilos zu sein vermögen, ohne indifferent oder völlig gleich-
giltig gegen die allgemeineren, die Geister der Zeitgenossen bewegenden Pro¬
bleme zu sein. Was hilft es ihnen, oder was hilft es der Zeit, wenn sie
durch ihr unabhängiges Denken die Einseitigkeit der Tagesdogmen erkennen
und deduciren? Niemand hört auf sie, niemand liest ihre Bücher, oder, es
findet sich nicht einmal in dem großen Deutschland ein Verleger, der sie
ihnen drucken würde. Sie haben gut psychologisch und historisch bewiesen,
daß. wenn die Gegenwart noch weiter auf derselben Bahn des Fortschritts
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |