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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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Kirche und des Papstthums, auf die verwirrten Verhältnisse des schwedischen
Königshofes :c., von einer höheren Perspective ausgingen, als man sonst zu
finden gewohnt ist. Daher überraschen sie oft durch die scharfe Einsicht in
die Wirklichkeit und das zutreffende ihrer Combinationen. Das hat denn
natürlich auch den größten Eindruck auf die Zeitgenossen gemacht, die sich die
Ursache freilich anders zurecht legten und in Birgitte eine besonders gottbe¬
gnadigte Prophetin sehen mußten.

Eine solche hervorragende Erscheinung in ein Jahrhundert, wie das 14.
gestellt, das gerade auf theologischen und theosophischen Gebiete eine überaus
reiche Literatur erzeugt hatte, mußte sofort ein Lieblingsgegenstand davon
werden. So hat sich denn an Birgitte eine unübersehbare Masse von Schriften
aller Art geheftet, die in immer neuer Wiedergebärung durch die Folgezeit bis
auf den heutigen Tag reichen. Hammerich's Buch ist der letzte Trieb davon,
und jedenfalls das geschmackvollste und wissenschaftlich tüchtigste Erzeugniß in
dieser ganzen Literatur, obgleich auch in ihm eine gewisse wohlrednerische Breite
hie und da den auf die Sache selbst gerichteten Sinn des Lesers stört. --
Sonderbar ist es, wie der Verfasser und sein Uebersetzer die Unterschrift des
beigegebenen, nicht schlechten Porträts der Heiligen mißverstanden haben. Es
steht in sehr leserlichen Zügen des 14. Jahrhunderts ganz deutlich Arst vit
iac Ligdia Kuru pit aru lmäelil: unäerstancislKö Aitvn d. h. zuerst will
ich Dir sagen, wie Dir geistlich Verständniß gegeben wird, eine Sentenz aus
den Schriften des Originals, worin sich die Quintessenz des Wesens dieser und
aller Mystik und Theosophie zusammendrängt.

Ueberhaupt wäre es sehr verkehrt, wollte man die Originalität der h.
Birgitte in ihrer Qualität als Theosophin suchen. Hier steht sie ganz auf
den Schultern der französischen Mystik des 12. Jahrhunderts und in nach¬
weisbarer Fühlung mit der deutschen ihrer Zeit, so weit sie ihrem geistigen
Vermögen zugänglich war. Denn die kühnen Speculationen eines Meister
Eckhart und ähnlich gearteter wahrhaft philosophischer Köpfe hat sie sich nicht
zu eigen gemacht. Sie ist nie zu Begriffen, sondern nur bis zu Bildern und
Allegorien gelangt, die sie für Begriffe nahm, oder die ihr die eigentlichen
philosophischen Begriffe völlig ersetzten, für die in ihrem Naturell gar kein
Raum gewesen zu sein scheint. Unsere deutschen Mystiker ersten Ranges da¬
gegen sind sich recht wohl bewußt, daß die Bilder und Allegorien, an denen
auch sie haften, nur die Schale und zwar eine conventionelle und gleichgültige
seien, und daß die wahre Welt ihres Denkens erst hinter denselben beginne.
Sie bedienen sich ihrer nur als der einmal feststehenden Sprache der Zunft,
H. Rückert. Birgitte dagegen als der Sprache an sich.




Verantwortlicher Redacteur: or. Hans Blum.
Verlag von F. L. Heriig. -- Druck von Hüthel K Legler in Leipzig.

Kirche und des Papstthums, auf die verwirrten Verhältnisse des schwedischen
Königshofes :c., von einer höheren Perspective ausgingen, als man sonst zu
finden gewohnt ist. Daher überraschen sie oft durch die scharfe Einsicht in
die Wirklichkeit und das zutreffende ihrer Combinationen. Das hat denn
natürlich auch den größten Eindruck auf die Zeitgenossen gemacht, die sich die
Ursache freilich anders zurecht legten und in Birgitte eine besonders gottbe¬
gnadigte Prophetin sehen mußten.

Eine solche hervorragende Erscheinung in ein Jahrhundert, wie das 14.
gestellt, das gerade auf theologischen und theosophischen Gebiete eine überaus
reiche Literatur erzeugt hatte, mußte sofort ein Lieblingsgegenstand davon
werden. So hat sich denn an Birgitte eine unübersehbare Masse von Schriften
aller Art geheftet, die in immer neuer Wiedergebärung durch die Folgezeit bis
auf den heutigen Tag reichen. Hammerich's Buch ist der letzte Trieb davon,
und jedenfalls das geschmackvollste und wissenschaftlich tüchtigste Erzeugniß in
dieser ganzen Literatur, obgleich auch in ihm eine gewisse wohlrednerische Breite
hie und da den auf die Sache selbst gerichteten Sinn des Lesers stört. —
Sonderbar ist es, wie der Verfasser und sein Uebersetzer die Unterschrift des
beigegebenen, nicht schlechten Porträts der Heiligen mißverstanden haben. Es
steht in sehr leserlichen Zügen des 14. Jahrhunderts ganz deutlich Arst vit
iac Ligdia Kuru pit aru lmäelil: unäerstancislKö Aitvn d. h. zuerst will
ich Dir sagen, wie Dir geistlich Verständniß gegeben wird, eine Sentenz aus
den Schriften des Originals, worin sich die Quintessenz des Wesens dieser und
aller Mystik und Theosophie zusammendrängt.

Ueberhaupt wäre es sehr verkehrt, wollte man die Originalität der h.
Birgitte in ihrer Qualität als Theosophin suchen. Hier steht sie ganz auf
den Schultern der französischen Mystik des 12. Jahrhunderts und in nach¬
weisbarer Fühlung mit der deutschen ihrer Zeit, so weit sie ihrem geistigen
Vermögen zugänglich war. Denn die kühnen Speculationen eines Meister
Eckhart und ähnlich gearteter wahrhaft philosophischer Köpfe hat sie sich nicht
zu eigen gemacht. Sie ist nie zu Begriffen, sondern nur bis zu Bildern und
Allegorien gelangt, die sie für Begriffe nahm, oder die ihr die eigentlichen
philosophischen Begriffe völlig ersetzten, für die in ihrem Naturell gar kein
Raum gewesen zu sein scheint. Unsere deutschen Mystiker ersten Ranges da¬
gegen sind sich recht wohl bewußt, daß die Bilder und Allegorien, an denen
auch sie haften, nur die Schale und zwar eine conventionelle und gleichgültige
seien, und daß die wahre Welt ihres Denkens erst hinter denselben beginne.
Sie bedienen sich ihrer nur als der einmal feststehenden Sprache der Zunft,
H. Rückert. Birgitte dagegen als der Sprache an sich.




Verantwortlicher Redacteur: or. Hans Blum.
Verlag von F. L. Heriig. — Druck von Hüthel K Legler in Leipzig.
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[0088] Kirche und des Papstthums, auf die verwirrten Verhältnisse des schwedischen Königshofes :c., von einer höheren Perspective ausgingen, als man sonst zu finden gewohnt ist. Daher überraschen sie oft durch die scharfe Einsicht in die Wirklichkeit und das zutreffende ihrer Combinationen. Das hat denn natürlich auch den größten Eindruck auf die Zeitgenossen gemacht, die sich die Ursache freilich anders zurecht legten und in Birgitte eine besonders gottbe¬ gnadigte Prophetin sehen mußten. Eine solche hervorragende Erscheinung in ein Jahrhundert, wie das 14. gestellt, das gerade auf theologischen und theosophischen Gebiete eine überaus reiche Literatur erzeugt hatte, mußte sofort ein Lieblingsgegenstand davon werden. So hat sich denn an Birgitte eine unübersehbare Masse von Schriften aller Art geheftet, die in immer neuer Wiedergebärung durch die Folgezeit bis auf den heutigen Tag reichen. Hammerich's Buch ist der letzte Trieb davon, und jedenfalls das geschmackvollste und wissenschaftlich tüchtigste Erzeugniß in dieser ganzen Literatur, obgleich auch in ihm eine gewisse wohlrednerische Breite hie und da den auf die Sache selbst gerichteten Sinn des Lesers stört. — Sonderbar ist es, wie der Verfasser und sein Uebersetzer die Unterschrift des beigegebenen, nicht schlechten Porträts der Heiligen mißverstanden haben. Es steht in sehr leserlichen Zügen des 14. Jahrhunderts ganz deutlich Arst vit iac Ligdia Kuru pit aru lmäelil: unäerstancislKö Aitvn d. h. zuerst will ich Dir sagen, wie Dir geistlich Verständniß gegeben wird, eine Sentenz aus den Schriften des Originals, worin sich die Quintessenz des Wesens dieser und aller Mystik und Theosophie zusammendrängt. Ueberhaupt wäre es sehr verkehrt, wollte man die Originalität der h. Birgitte in ihrer Qualität als Theosophin suchen. Hier steht sie ganz auf den Schultern der französischen Mystik des 12. Jahrhunderts und in nach¬ weisbarer Fühlung mit der deutschen ihrer Zeit, so weit sie ihrem geistigen Vermögen zugänglich war. Denn die kühnen Speculationen eines Meister Eckhart und ähnlich gearteter wahrhaft philosophischer Köpfe hat sie sich nicht zu eigen gemacht. Sie ist nie zu Begriffen, sondern nur bis zu Bildern und Allegorien gelangt, die sie für Begriffe nahm, oder die ihr die eigentlichen philosophischen Begriffe völlig ersetzten, für die in ihrem Naturell gar kein Raum gewesen zu sein scheint. Unsere deutschen Mystiker ersten Ranges da¬ gegen sind sich recht wohl bewußt, daß die Bilder und Allegorien, an denen auch sie haften, nur die Schale und zwar eine conventionelle und gleichgültige seien, und daß die wahre Welt ihres Denkens erst hinter denselben beginne. Sie bedienen sich ihrer nur als der einmal feststehenden Sprache der Zunft, H. Rückert. Birgitte dagegen als der Sprache an sich. Verantwortlicher Redacteur: or. Hans Blum. Verlag von F. L. Heriig. — Druck von Hüthel K Legler in Leipzig.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/88>, abgerufen am 23.07.2024.