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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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dieselben Erscheinungen, nur daß sich naturgemäß deren Vorstellungs - und
Bilderkreis aus anderen Stoffen zusammensetzte, wie im christlichen Mittel¬
alter oder heutzutage. Möglich, daß eine stärkere Beimischung des finnischen
Blutes die Ursache dieser Erscheinung ist, die jeder Kenner nordischer Zu¬
stände bemerken muß. Daß noch in sogenannter geschichtlicher Zeit, also etwa
im siebenten und achten Jahrhundert n. Chr. die ganze nördliche Hälfte von
Schweden finnisch war, ist trotz aller Ausflüchte der stets mit patriotischer
Brille sehenden d. h. geflissentlich nicht sehen wollenden einheimischen Forscher,
eine unumstößliche Thatsache und zugleich ein Haupteinwurf gegen die uralte
und neumodische Hypothese einer mehr oder minder stritten Autochthonie des
skandinavischen Germanenthums auf schwedischen Boden. Auch das südliche
Schweden, wo die geschriebene Geschichte nur Germanen gothischen und
schwedischen Stammes kennt, wird vor ihnen von Finnen, vielleicht mit einiger
keltischer Beimischung besetzt gewesen sein.

Die heilige Birgitta ist die ohne Frage berühmteste aus dieser unendlich
langen Reihe dämonischer Frauen und verdient auch in jeder Hinsicht ihren
Ehrenvorzug. Denn ziehen wir alles gefällige und specifische des Ortes und
der Zeit ab, so bleibt in ihr neben dem Räthselhaften in ihrer letzten Seelen-
substanz ein tüchtiger, sittlicher und menschlicher Kern, eine gewisse, biedere
Nüchternheit des Verstandes bei allen Excessen der Phantasie, ein heiterer und
wohlwollender Sinn trotz ihres fortwährenden Verkehrs mit der Nachtseite der
Natur und des Geistes. Ohne Zweifel ist es weniger die "nordische Art"
als solche, der sie diese Vorzüge zu danken hat, als das Glück, in einer hoch¬
stehenden, mit Gütern aller Art, aber auch mit tüchtigen Charakteren an
Männern und Frauen reich ausgestatteten Familie geboren zu sein, in der
sich zugleich als alte Tradition ein gewisses Interesse für höhere Dinge fort¬
geerbt hatte. Denn viele ihrer nächsten Verwandten waren nicht bloß fromm
im Stile der Zeit, sondern zugleich auch in demselben Stile gebildete, ja ge¬
lehrte Leute. Eben darum bewegte sich auch das Leben der Heiligen äußerlich
immer in den höchsten aristokratischen Kreisen ihres Vaterlandes und seiner
Nachbarländer und selbst in Rom, wo sie den letzten Abschnitt ihres Lebens
zubrachte, trat sie als ebenbürtige in den Kreis des stolzen dortigen Stadt¬
adels, und als Heilige überstrahlte sie sogar noch den Glanz ihrer bloß welt¬
lichen Genossen.

Ihrer günstigen Situation hatte sie es auch zu verdanken, daß sie, wie
der mündlichen Rede, so auch des schriftlichen Ausdrucks völlig mächtig war,
und es läßt sich leicht begreifen, wie sehr sie dadurch die Wucht ihrer Pro-
phette vermehrte. Dieß selbst hat keinen andern Gehalt, als bei allen ihren
Schwestern, und nur insofern mehr Bedeutung, als ihre Gefühle, wenn sie sich,
wie meist, auf reale Zustände bezogen, z. B. auf den verderbten Zustand der


dieselben Erscheinungen, nur daß sich naturgemäß deren Vorstellungs - und
Bilderkreis aus anderen Stoffen zusammensetzte, wie im christlichen Mittel¬
alter oder heutzutage. Möglich, daß eine stärkere Beimischung des finnischen
Blutes die Ursache dieser Erscheinung ist, die jeder Kenner nordischer Zu¬
stände bemerken muß. Daß noch in sogenannter geschichtlicher Zeit, also etwa
im siebenten und achten Jahrhundert n. Chr. die ganze nördliche Hälfte von
Schweden finnisch war, ist trotz aller Ausflüchte der stets mit patriotischer
Brille sehenden d. h. geflissentlich nicht sehen wollenden einheimischen Forscher,
eine unumstößliche Thatsache und zugleich ein Haupteinwurf gegen die uralte
und neumodische Hypothese einer mehr oder minder stritten Autochthonie des
skandinavischen Germanenthums auf schwedischen Boden. Auch das südliche
Schweden, wo die geschriebene Geschichte nur Germanen gothischen und
schwedischen Stammes kennt, wird vor ihnen von Finnen, vielleicht mit einiger
keltischer Beimischung besetzt gewesen sein.

Die heilige Birgitta ist die ohne Frage berühmteste aus dieser unendlich
langen Reihe dämonischer Frauen und verdient auch in jeder Hinsicht ihren
Ehrenvorzug. Denn ziehen wir alles gefällige und specifische des Ortes und
der Zeit ab, so bleibt in ihr neben dem Räthselhaften in ihrer letzten Seelen-
substanz ein tüchtiger, sittlicher und menschlicher Kern, eine gewisse, biedere
Nüchternheit des Verstandes bei allen Excessen der Phantasie, ein heiterer und
wohlwollender Sinn trotz ihres fortwährenden Verkehrs mit der Nachtseite der
Natur und des Geistes. Ohne Zweifel ist es weniger die „nordische Art"
als solche, der sie diese Vorzüge zu danken hat, als das Glück, in einer hoch¬
stehenden, mit Gütern aller Art, aber auch mit tüchtigen Charakteren an
Männern und Frauen reich ausgestatteten Familie geboren zu sein, in der
sich zugleich als alte Tradition ein gewisses Interesse für höhere Dinge fort¬
geerbt hatte. Denn viele ihrer nächsten Verwandten waren nicht bloß fromm
im Stile der Zeit, sondern zugleich auch in demselben Stile gebildete, ja ge¬
lehrte Leute. Eben darum bewegte sich auch das Leben der Heiligen äußerlich
immer in den höchsten aristokratischen Kreisen ihres Vaterlandes und seiner
Nachbarländer und selbst in Rom, wo sie den letzten Abschnitt ihres Lebens
zubrachte, trat sie als ebenbürtige in den Kreis des stolzen dortigen Stadt¬
adels, und als Heilige überstrahlte sie sogar noch den Glanz ihrer bloß welt¬
lichen Genossen.

Ihrer günstigen Situation hatte sie es auch zu verdanken, daß sie, wie
der mündlichen Rede, so auch des schriftlichen Ausdrucks völlig mächtig war,
und es läßt sich leicht begreifen, wie sehr sie dadurch die Wucht ihrer Pro-
phette vermehrte. Dieß selbst hat keinen andern Gehalt, als bei allen ihren
Schwestern, und nur insofern mehr Bedeutung, als ihre Gefühle, wenn sie sich,
wie meist, auf reale Zustände bezogen, z. B. auf den verderbten Zustand der


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[0087] dieselben Erscheinungen, nur daß sich naturgemäß deren Vorstellungs - und Bilderkreis aus anderen Stoffen zusammensetzte, wie im christlichen Mittel¬ alter oder heutzutage. Möglich, daß eine stärkere Beimischung des finnischen Blutes die Ursache dieser Erscheinung ist, die jeder Kenner nordischer Zu¬ stände bemerken muß. Daß noch in sogenannter geschichtlicher Zeit, also etwa im siebenten und achten Jahrhundert n. Chr. die ganze nördliche Hälfte von Schweden finnisch war, ist trotz aller Ausflüchte der stets mit patriotischer Brille sehenden d. h. geflissentlich nicht sehen wollenden einheimischen Forscher, eine unumstößliche Thatsache und zugleich ein Haupteinwurf gegen die uralte und neumodische Hypothese einer mehr oder minder stritten Autochthonie des skandinavischen Germanenthums auf schwedischen Boden. Auch das südliche Schweden, wo die geschriebene Geschichte nur Germanen gothischen und schwedischen Stammes kennt, wird vor ihnen von Finnen, vielleicht mit einiger keltischer Beimischung besetzt gewesen sein. Die heilige Birgitta ist die ohne Frage berühmteste aus dieser unendlich langen Reihe dämonischer Frauen und verdient auch in jeder Hinsicht ihren Ehrenvorzug. Denn ziehen wir alles gefällige und specifische des Ortes und der Zeit ab, so bleibt in ihr neben dem Räthselhaften in ihrer letzten Seelen- substanz ein tüchtiger, sittlicher und menschlicher Kern, eine gewisse, biedere Nüchternheit des Verstandes bei allen Excessen der Phantasie, ein heiterer und wohlwollender Sinn trotz ihres fortwährenden Verkehrs mit der Nachtseite der Natur und des Geistes. Ohne Zweifel ist es weniger die „nordische Art" als solche, der sie diese Vorzüge zu danken hat, als das Glück, in einer hoch¬ stehenden, mit Gütern aller Art, aber auch mit tüchtigen Charakteren an Männern und Frauen reich ausgestatteten Familie geboren zu sein, in der sich zugleich als alte Tradition ein gewisses Interesse für höhere Dinge fort¬ geerbt hatte. Denn viele ihrer nächsten Verwandten waren nicht bloß fromm im Stile der Zeit, sondern zugleich auch in demselben Stile gebildete, ja ge¬ lehrte Leute. Eben darum bewegte sich auch das Leben der Heiligen äußerlich immer in den höchsten aristokratischen Kreisen ihres Vaterlandes und seiner Nachbarländer und selbst in Rom, wo sie den letzten Abschnitt ihres Lebens zubrachte, trat sie als ebenbürtige in den Kreis des stolzen dortigen Stadt¬ adels, und als Heilige überstrahlte sie sogar noch den Glanz ihrer bloß welt¬ lichen Genossen. Ihrer günstigen Situation hatte sie es auch zu verdanken, daß sie, wie der mündlichen Rede, so auch des schriftlichen Ausdrucks völlig mächtig war, und es läßt sich leicht begreifen, wie sehr sie dadurch die Wucht ihrer Pro- phette vermehrte. Dieß selbst hat keinen andern Gehalt, als bei allen ihren Schwestern, und nur insofern mehr Bedeutung, als ihre Gefühle, wenn sie sich, wie meist, auf reale Zustände bezogen, z. B. auf den verderbten Zustand der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/87>, abgerufen am 26.08.2024.