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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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guten Anlagen, aber lückenhafter Durchbildung bei jedem wach ruft, ist es
auch lehrreich zu sehen, wie sich die Strahlen unserer neueren und neuesten
Bildung in jenen höchsten Regionen so ganz eigenthümlich brechen -- wenn sie
überhaupt dorthin gelangen. -- Nicht ohne launigen Humor schildert das
folgende Stück "Richard Wagner als Dramatiker" die poetische Eigenart des
großen Zukunftsmusikers, der zugleich ja auch der große Zukunftspoet zu sein
sich anheischig machte. Im wesentlichen ist die öffentliche Meinung über beide
Prätensionen ziemlich einstimmig zur Tagesordnung übergegangen und alle
verspäteten Proteste der Secte werden daran nichts ändern. Den Schluß dieser
Abtheilung bildet "Julius Grosse", dessen allseitige Begabung in den verschie¬
densten Formen der Poesie, namentlich des Dramas, unseres Wissens noch
keine so eingehende und gründliche Würdigung erfahren hat, wie hier.

Dem Orient gehören an zwei Studien "Ueber den sog. türkischen Eulen¬
spiegel" und "Verwandte persische und occidentalische Sagenstoffe." Der "tür¬
kische Eulenspiegel" ist der vielgenannte Chodschah Nasraddin, der mit unserem
deutschen Eulenspiegel außer sehr vielen anderen Ähnlichkeiten auch die besitzt,
daß er dem 14. Jahrhundert angeblich angehören soll. Die Volksbücher von
ihm, so wie die mündliche Tradition sind dort in der That fast noch lebendiger
als hier, denn unser Eulenspiegel fristet jetzt doch mehr in dem Sprichwort
und höchstens im eigentlichen Volke sein Leben, während man von seinem
türkischen Collegen sagen darf, daß er noch jetzt mitten im Volksbewußtsein
in derselben Frische wie seit Jahrhunderten wurzelt. -- "Ein moderner Prophet
des Morgenlandes" bringt ein ebenso gründliches wie ansprechendes Bild des
1849 in Tauris in Persien Hingerichteten Sectenstifters Ali Muhammed, ge¬
nannt Bab, der seiner Zeit ganz Persien durch seine kühnen Reformversuche
an dem Islam in die tiefste Aufregung versetzt hat. -- Von dem "Phantasie¬
stück", die Maid von Bagdad, sagen wir nur, daß es sich fast wie ein Märchen
aus Tausend und Einer Nacht liest. --

Ein oft schon beleuchtetes literarisches und culturgeschichtliches Bild aus
ganz anderer Region stellt uns dar "Se. Birgitt" die nordische Pro¬
phetin" und Ordensstifterin, ein Lebens- und Zeitbild aus dem vierzehnten
Jahrh, von Dr. Th. Fr. Hammerich. Deutsche autor. Ausgabe von
Alex. Michelsen. Gotha 1872.

Die heilige Birgitt", wie sie hier urkundlich richtiger heißt, oder Brigitta,
wie sie die ganze Welt nennt, gehört zu der nicht gerade seltenen Zunft der
Hellseherinnen und Prophetinnen. Ihr Vaterland Schweden namentlich ist
vermöge einer eigenthümlichen Disposition der Volksseele bis zu dieser Stunde
unendlich reich daran gewesen, und übersetzen wir uralte Formen und Gewände
in moderne, so bietet uns schon das Heidenthum des Nordens und gerade
wieder vorzugsweise in Schweden am wenigsten in Island -- genau


guten Anlagen, aber lückenhafter Durchbildung bei jedem wach ruft, ist es
auch lehrreich zu sehen, wie sich die Strahlen unserer neueren und neuesten
Bildung in jenen höchsten Regionen so ganz eigenthümlich brechen — wenn sie
überhaupt dorthin gelangen. — Nicht ohne launigen Humor schildert das
folgende Stück „Richard Wagner als Dramatiker" die poetische Eigenart des
großen Zukunftsmusikers, der zugleich ja auch der große Zukunftspoet zu sein
sich anheischig machte. Im wesentlichen ist die öffentliche Meinung über beide
Prätensionen ziemlich einstimmig zur Tagesordnung übergegangen und alle
verspäteten Proteste der Secte werden daran nichts ändern. Den Schluß dieser
Abtheilung bildet „Julius Grosse", dessen allseitige Begabung in den verschie¬
densten Formen der Poesie, namentlich des Dramas, unseres Wissens noch
keine so eingehende und gründliche Würdigung erfahren hat, wie hier.

Dem Orient gehören an zwei Studien „Ueber den sog. türkischen Eulen¬
spiegel" und „Verwandte persische und occidentalische Sagenstoffe." Der „tür¬
kische Eulenspiegel" ist der vielgenannte Chodschah Nasraddin, der mit unserem
deutschen Eulenspiegel außer sehr vielen anderen Ähnlichkeiten auch die besitzt,
daß er dem 14. Jahrhundert angeblich angehören soll. Die Volksbücher von
ihm, so wie die mündliche Tradition sind dort in der That fast noch lebendiger
als hier, denn unser Eulenspiegel fristet jetzt doch mehr in dem Sprichwort
und höchstens im eigentlichen Volke sein Leben, während man von seinem
türkischen Collegen sagen darf, daß er noch jetzt mitten im Volksbewußtsein
in derselben Frische wie seit Jahrhunderten wurzelt. — „Ein moderner Prophet
des Morgenlandes" bringt ein ebenso gründliches wie ansprechendes Bild des
1849 in Tauris in Persien Hingerichteten Sectenstifters Ali Muhammed, ge¬
nannt Bab, der seiner Zeit ganz Persien durch seine kühnen Reformversuche
an dem Islam in die tiefste Aufregung versetzt hat. — Von dem „Phantasie¬
stück", die Maid von Bagdad, sagen wir nur, daß es sich fast wie ein Märchen
aus Tausend und Einer Nacht liest. —

Ein oft schon beleuchtetes literarisches und culturgeschichtliches Bild aus
ganz anderer Region stellt uns dar „Se. Birgitt« die nordische Pro¬
phetin" und Ordensstifterin, ein Lebens- und Zeitbild aus dem vierzehnten
Jahrh, von Dr. Th. Fr. Hammerich. Deutsche autor. Ausgabe von
Alex. Michelsen. Gotha 1872.

Die heilige Birgitt«, wie sie hier urkundlich richtiger heißt, oder Brigitta,
wie sie die ganze Welt nennt, gehört zu der nicht gerade seltenen Zunft der
Hellseherinnen und Prophetinnen. Ihr Vaterland Schweden namentlich ist
vermöge einer eigenthümlichen Disposition der Volksseele bis zu dieser Stunde
unendlich reich daran gewesen, und übersetzen wir uralte Formen und Gewände
in moderne, so bietet uns schon das Heidenthum des Nordens und gerade
wieder vorzugsweise in Schweden am wenigsten in Island — genau


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[0086] guten Anlagen, aber lückenhafter Durchbildung bei jedem wach ruft, ist es auch lehrreich zu sehen, wie sich die Strahlen unserer neueren und neuesten Bildung in jenen höchsten Regionen so ganz eigenthümlich brechen — wenn sie überhaupt dorthin gelangen. — Nicht ohne launigen Humor schildert das folgende Stück „Richard Wagner als Dramatiker" die poetische Eigenart des großen Zukunftsmusikers, der zugleich ja auch der große Zukunftspoet zu sein sich anheischig machte. Im wesentlichen ist die öffentliche Meinung über beide Prätensionen ziemlich einstimmig zur Tagesordnung übergegangen und alle verspäteten Proteste der Secte werden daran nichts ändern. Den Schluß dieser Abtheilung bildet „Julius Grosse", dessen allseitige Begabung in den verschie¬ densten Formen der Poesie, namentlich des Dramas, unseres Wissens noch keine so eingehende und gründliche Würdigung erfahren hat, wie hier. Dem Orient gehören an zwei Studien „Ueber den sog. türkischen Eulen¬ spiegel" und „Verwandte persische und occidentalische Sagenstoffe." Der „tür¬ kische Eulenspiegel" ist der vielgenannte Chodschah Nasraddin, der mit unserem deutschen Eulenspiegel außer sehr vielen anderen Ähnlichkeiten auch die besitzt, daß er dem 14. Jahrhundert angeblich angehören soll. Die Volksbücher von ihm, so wie die mündliche Tradition sind dort in der That fast noch lebendiger als hier, denn unser Eulenspiegel fristet jetzt doch mehr in dem Sprichwort und höchstens im eigentlichen Volke sein Leben, während man von seinem türkischen Collegen sagen darf, daß er noch jetzt mitten im Volksbewußtsein in derselben Frische wie seit Jahrhunderten wurzelt. — „Ein moderner Prophet des Morgenlandes" bringt ein ebenso gründliches wie ansprechendes Bild des 1849 in Tauris in Persien Hingerichteten Sectenstifters Ali Muhammed, ge¬ nannt Bab, der seiner Zeit ganz Persien durch seine kühnen Reformversuche an dem Islam in die tiefste Aufregung versetzt hat. — Von dem „Phantasie¬ stück", die Maid von Bagdad, sagen wir nur, daß es sich fast wie ein Märchen aus Tausend und Einer Nacht liest. — Ein oft schon beleuchtetes literarisches und culturgeschichtliches Bild aus ganz anderer Region stellt uns dar „Se. Birgitt« die nordische Pro¬ phetin" und Ordensstifterin, ein Lebens- und Zeitbild aus dem vierzehnten Jahrh, von Dr. Th. Fr. Hammerich. Deutsche autor. Ausgabe von Alex. Michelsen. Gotha 1872. Die heilige Birgitt«, wie sie hier urkundlich richtiger heißt, oder Brigitta, wie sie die ganze Welt nennt, gehört zu der nicht gerade seltenen Zunft der Hellseherinnen und Prophetinnen. Ihr Vaterland Schweden namentlich ist vermöge einer eigenthümlichen Disposition der Volksseele bis zu dieser Stunde unendlich reich daran gewesen, und übersetzen wir uralte Formen und Gewände in moderne, so bietet uns schon das Heidenthum des Nordens und gerade wieder vorzugsweise in Schweden am wenigsten in Island — genau

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/86>, abgerufen am 02.10.2024.