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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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gebung apathisch über sich dahingehen läßt' ohne derselben mit eigener Prü¬
fung gegenüberzutreten; die gesetzgebende Gewalt erscheint ihr als ein unnah¬
bares Unbekanntes. Ein solches Verhältniß kann nur den zahlreichen franzö¬
sischen Agitatoren in die Hände arbeiten, welche in diesem altdeutschen Volks¬
stamme um jeden Preis die Vorstellung festhalten möchten, daß ihm die
jetzige Verwaltung ein "Fremdling" sei; man soll daher nicht säumen mit
der Abhülfe. Freilich, die im letzten Frühjahr vom Reichstage genehmigte
Verlängerung der Dictaturperiode um ein Jahr war unumgänglich, weil es
schlechterdings unerträglich war, in dem Wirrwarr und der Ungewißheit der
Optionszeit die nothwendigen Vorarbeiten für die normale Gestaltung des
staatlichen Organismus auszuführen. Jetzt ist für diese Arbeit die genügende
Zeit vorhanden und die Regierung scheint mit ihrer Verwerthung vollauf be¬
schäftigt zu sein. Das nächste Ziel ist die Berufung der alten Departemen-
talvertretungen, im Französischen "Generalräthe" genannt, in dem gegenwär¬
tig dem Bundesrathe vorliegenden Gesetzentwurfe als "Bezirkstage" bezeichnet.
Die Generalräthe haben, wie bekannt, keine politischen Befugnisse; aber es
liegt auf der Hand, daß die Wahlen zu denselben doch ganz nach politischen
Gesichtspunkten vollzogen werden. Man wird also endlich einmal einen greif¬
baren Ausdruck der Volksstimmung vor sich haben, und wie außerordentlich
viel damit gewonnen sein wird, begreift Jeder, der die contradictorische Ver¬
schiedenheit der bisherigen Stimmungsbeurtheilungen kennt. Neben diesem
Gewinn hat das Experiment zugleich den Vortheil der Ungefährlicher. Eine
strenge Beschränkung der Generalräthe auf ihre gesetzliche Kompetenz heißt sie
von vornherein ziemlich unschädlich machen. Was die politischen Dinge an¬
belangt, so hat die Regierung es ganz in der Hand, ob sie sich in nichtoffi-
cieller Weise von ihnen Raths erholen will; in dieser Beziehung haben die
Generalräthe vor jeder andern Notabelnversammlung den Vorzug, daß sie
gewählte Körperschaften sind. Jedenfalls wird der Verkehr mit ihnen die
Erfahrungen liefern müssen, nach welchen die Frage der definitiven Einrichtung
der reichsländischen Gesetzgebung zu beurtheilen sein wird. Zeigen sich die
Erwählten des elsaß-lothringischen Volkes zu ernstem, fruchtbringenden Wirken
in Gemeinschaft mit der deutschen Regierung bereit, dann wird man unseres
Erachtens nichts Besseres thun können, als das Reichsland mit der vollstem,
tigem Legislative eines Particularstaates auszustatten: denn das Wort des
-Fürsten Bismarck: "Machen wir die Elscisser erst zu Elsässern. dann werden
sie auch Deutsche werden", scheint uns von tiefer Wahrheit zu sein. Ver¬
kapseln sie sich "her in eine unfruchtbare Negation, so wird nichts Anderes
übrig bleiben, als den in dem Einverleibungsgesetze vorgesehenen Weg zu be¬
treten und den Reichstag mit der Wahrnehmung der elsaß-lothringischen Lan¬
desgesetzgebung zu betrauen.


gebung apathisch über sich dahingehen läßt' ohne derselben mit eigener Prü¬
fung gegenüberzutreten; die gesetzgebende Gewalt erscheint ihr als ein unnah¬
bares Unbekanntes. Ein solches Verhältniß kann nur den zahlreichen franzö¬
sischen Agitatoren in die Hände arbeiten, welche in diesem altdeutschen Volks¬
stamme um jeden Preis die Vorstellung festhalten möchten, daß ihm die
jetzige Verwaltung ein „Fremdling" sei; man soll daher nicht säumen mit
der Abhülfe. Freilich, die im letzten Frühjahr vom Reichstage genehmigte
Verlängerung der Dictaturperiode um ein Jahr war unumgänglich, weil es
schlechterdings unerträglich war, in dem Wirrwarr und der Ungewißheit der
Optionszeit die nothwendigen Vorarbeiten für die normale Gestaltung des
staatlichen Organismus auszuführen. Jetzt ist für diese Arbeit die genügende
Zeit vorhanden und die Regierung scheint mit ihrer Verwerthung vollauf be¬
schäftigt zu sein. Das nächste Ziel ist die Berufung der alten Departemen-
talvertretungen, im Französischen „Generalräthe" genannt, in dem gegenwär¬
tig dem Bundesrathe vorliegenden Gesetzentwurfe als „Bezirkstage" bezeichnet.
Die Generalräthe haben, wie bekannt, keine politischen Befugnisse; aber es
liegt auf der Hand, daß die Wahlen zu denselben doch ganz nach politischen
Gesichtspunkten vollzogen werden. Man wird also endlich einmal einen greif¬
baren Ausdruck der Volksstimmung vor sich haben, und wie außerordentlich
viel damit gewonnen sein wird, begreift Jeder, der die contradictorische Ver¬
schiedenheit der bisherigen Stimmungsbeurtheilungen kennt. Neben diesem
Gewinn hat das Experiment zugleich den Vortheil der Ungefährlicher. Eine
strenge Beschränkung der Generalräthe auf ihre gesetzliche Kompetenz heißt sie
von vornherein ziemlich unschädlich machen. Was die politischen Dinge an¬
belangt, so hat die Regierung es ganz in der Hand, ob sie sich in nichtoffi-
cieller Weise von ihnen Raths erholen will; in dieser Beziehung haben die
Generalräthe vor jeder andern Notabelnversammlung den Vorzug, daß sie
gewählte Körperschaften sind. Jedenfalls wird der Verkehr mit ihnen die
Erfahrungen liefern müssen, nach welchen die Frage der definitiven Einrichtung
der reichsländischen Gesetzgebung zu beurtheilen sein wird. Zeigen sich die
Erwählten des elsaß-lothringischen Volkes zu ernstem, fruchtbringenden Wirken
in Gemeinschaft mit der deutschen Regierung bereit, dann wird man unseres
Erachtens nichts Besseres thun können, als das Reichsland mit der vollstem,
tigem Legislative eines Particularstaates auszustatten: denn das Wort des
-Fürsten Bismarck: „Machen wir die Elscisser erst zu Elsässern. dann werden
sie auch Deutsche werden", scheint uns von tiefer Wahrheit zu sein. Ver¬
kapseln sie sich «her in eine unfruchtbare Negation, so wird nichts Anderes
übrig bleiben, als den in dem Einverleibungsgesetze vorgesehenen Weg zu be¬
treten und den Reichstag mit der Wahrnehmung der elsaß-lothringischen Lan¬
desgesetzgebung zu betrauen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/205>, abgerufen am 02.10.2024.