Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.Der Ausfall der bevorstehenden Generalrathswahlen kann also leicht für Der größte Feind der Annäherung zwischen der alten und der neuen Be¬ Der Ausfall der bevorstehenden Generalrathswahlen kann also leicht für Der größte Feind der Annäherung zwischen der alten und der neuen Be¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0206" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/129198"/> <p xml:id="ID_660"> Der Ausfall der bevorstehenden Generalrathswahlen kann also leicht für<lb/> die ganze politische Stellung des Reichslandes auf lange Dauer hinaus von<lb/> entscheidender Bedeutung werden. Wie sich dieser Ausfall gestalten wird, ist<lb/> einem eingewanderten Deutschen wohl kaum möglich, mit einiger Zuverlässigkeit<lb/> vorherzusagen; aber selbst einem geborenen Elsaß-Lothringer würde es schwer¬<lb/> lich gelingen. Der ungeheure Umschwung der letzten Jahre hat so Manches<lb/> verändert, und nun hat soeben noch die Einführung der Reichsgesetze über<lb/> Freizügigkeit und Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit die Revolution<lb/> vollständig gemacht. Hierdurch tritt ein ganz neuer Factor in die Rechnung:<lb/> die deutsche Einwanderung. Freilich wird dieser Factor nirgends von domi-<lb/> nirender Tendenz sein; aber die Deutschen, wenn sie ihre Schuldigkeit thun,<lb/> können doch sehr heilsam mitwirken. Voraussichtlich werden einerseits die<lb/> Ultramontanen und andererseits die französisch gesinnten Republikaner die<lb/> beiden Hauptparteien im Wahlkampfe bilden. Herr Gambetta wird freilich<lb/> wünschen, daß beide sich zu gemeinschaftlicher Bekämpfung des „Fremdlings"<lb/> verbinden; aber bei der im Elsaß so tiefgehenden Spaltung der Konfessionen<lb/> und religiösen Anschauungen ist diese Coalition kaum ernstlich zu besorgen.<lb/> Da kann sich also, den Deutschen unter Umständen wenigstens die Gelegenheit<lb/> bieten, dem unschädlicheren von beiden Feinden zum Siege über den schlim¬<lb/> meren zu verhelfen. Ihre Hauptaufgabe aber wird sein, nnter der einheimi¬<lb/> schen Bevölkerung selbst die Elemente aufzusuchen, welche den Kern zur Bildung<lb/> einer deutschen Partei abgeben können. Diese Elemente sind vorhanden, wenn<lb/> auch noch spärlich; aber es wird von deutscher Seite viel unverdroßnen Muth<lb/> und noch viel mehr Takt bedürfen, um mit ihnen anzuknüpfen.</p><lb/> <p xml:id="ID_661" next="#ID_662"> Der größte Feind der Annäherung zwischen der alten und der neuen Be¬<lb/> völkerung in Elsaß-Lothringen ist das gegenseitige Mißtrauen; dazu gesellt<lb/> sich auf deutscher Seite Empfindlichkeit über die Verkennung wohlgemeinter<lb/> Absichten, auf elsässischer die Furcht vor dem französisch gesinnten Nachbar.<lb/> Dies ist den wenigen in der Oeffentlichkeit stehenden Elscissern geradezu zur<lb/> verderblichen Klippe geworden. Man will es beiden Theilen recht Machen und<lb/> geht daran zu Grunde. Ein schlagendes Beispiel liefert zur Zeit der Stra߬<lb/> burger Magistrat. Durch alle deutschen Blätter ist die Nachricht gegangen,<lb/> wie Professor Springer im hiesigen Rathhaussaale einen Vortrag über Er¬<lb/> richtung einer Gewerbeakademie in Straßburg gehalten und ihm dafür von<lb/> den beiden Beigeordneten Goguel und Julin die außerordentlich höflich moti-<lb/> virte Antwort geworden ist, daß für ein derartiges Institut hier kein Bedürf¬<lb/> niß, keine „Atmosphäre" vorhanden sei. Die Correspondenten der deutschen<lb/> Blätter erhoben ein gewaltiges Geschrei über die unerhörte Philisterhaftigkeit<lb/> dieses Votums. Im Grunde lag die Sache doch etwas anders. Der Stra߬<lb/> burger Gemeinderath besteht zur Mehrheit aus Mitgliedern, welche mit dem</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0206]
Der Ausfall der bevorstehenden Generalrathswahlen kann also leicht für
die ganze politische Stellung des Reichslandes auf lange Dauer hinaus von
entscheidender Bedeutung werden. Wie sich dieser Ausfall gestalten wird, ist
einem eingewanderten Deutschen wohl kaum möglich, mit einiger Zuverlässigkeit
vorherzusagen; aber selbst einem geborenen Elsaß-Lothringer würde es schwer¬
lich gelingen. Der ungeheure Umschwung der letzten Jahre hat so Manches
verändert, und nun hat soeben noch die Einführung der Reichsgesetze über
Freizügigkeit und Erwerb und Verlust der Staatsangehörigkeit die Revolution
vollständig gemacht. Hierdurch tritt ein ganz neuer Factor in die Rechnung:
die deutsche Einwanderung. Freilich wird dieser Factor nirgends von domi-
nirender Tendenz sein; aber die Deutschen, wenn sie ihre Schuldigkeit thun,
können doch sehr heilsam mitwirken. Voraussichtlich werden einerseits die
Ultramontanen und andererseits die französisch gesinnten Republikaner die
beiden Hauptparteien im Wahlkampfe bilden. Herr Gambetta wird freilich
wünschen, daß beide sich zu gemeinschaftlicher Bekämpfung des „Fremdlings"
verbinden; aber bei der im Elsaß so tiefgehenden Spaltung der Konfessionen
und religiösen Anschauungen ist diese Coalition kaum ernstlich zu besorgen.
Da kann sich also, den Deutschen unter Umständen wenigstens die Gelegenheit
bieten, dem unschädlicheren von beiden Feinden zum Siege über den schlim¬
meren zu verhelfen. Ihre Hauptaufgabe aber wird sein, nnter der einheimi¬
schen Bevölkerung selbst die Elemente aufzusuchen, welche den Kern zur Bildung
einer deutschen Partei abgeben können. Diese Elemente sind vorhanden, wenn
auch noch spärlich; aber es wird von deutscher Seite viel unverdroßnen Muth
und noch viel mehr Takt bedürfen, um mit ihnen anzuknüpfen.
Der größte Feind der Annäherung zwischen der alten und der neuen Be¬
völkerung in Elsaß-Lothringen ist das gegenseitige Mißtrauen; dazu gesellt
sich auf deutscher Seite Empfindlichkeit über die Verkennung wohlgemeinter
Absichten, auf elsässischer die Furcht vor dem französisch gesinnten Nachbar.
Dies ist den wenigen in der Oeffentlichkeit stehenden Elscissern geradezu zur
verderblichen Klippe geworden. Man will es beiden Theilen recht Machen und
geht daran zu Grunde. Ein schlagendes Beispiel liefert zur Zeit der Stra߬
burger Magistrat. Durch alle deutschen Blätter ist die Nachricht gegangen,
wie Professor Springer im hiesigen Rathhaussaale einen Vortrag über Er¬
richtung einer Gewerbeakademie in Straßburg gehalten und ihm dafür von
den beiden Beigeordneten Goguel und Julin die außerordentlich höflich moti-
virte Antwort geworden ist, daß für ein derartiges Institut hier kein Bedürf¬
niß, keine „Atmosphäre" vorhanden sei. Die Correspondenten der deutschen
Blätter erhoben ein gewaltiges Geschrei über die unerhörte Philisterhaftigkeit
dieses Votums. Im Grunde lag die Sache doch etwas anders. Der Stra߬
burger Gemeinderath besteht zur Mehrheit aus Mitgliedern, welche mit dem
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