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Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band.

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Ms dem Lisch.

Wie erwachend nach schwerem Alpdruck, so hat wohl gar manches Mit¬
glied der "deutschen Colonie" der Reichslande aufgeathmet, als es am Neu¬
jahrsmorgen auf die eben abgeschlossene Vergangenheit zurückblickte. Das
Jahr der Option und der ersten Recrutenaushebung hinter sich zu haben,
war lange der tägliche Seufzer gewesen -- nun war es erreicht; frei erschien
die Bahn von den schlimmsten Hindernissen und leichteren Muthes ging man
an die Arbeit. Gewiß, das Gefühl hatte seine tiefe Berechtigung; doch es
entsprach ungleich mehr dem Gemüthszustande des Deutschen, als der thatsäch¬
lichen Lage der Dinge. Die positive Arbeit der Zukunft stellt weit schwieri¬
gere Aufgaben, als die mehr negative des verflossenen Jahres. Der Unter¬
schied ist nur, daß die Ziele der ersteren danach angethan sind, alle ernsten
politischen Kräfte zu freudigem Wirken anzuspornen, während der Zersetzungs-
und Läuterungsproceß des hinter uns liegenden Zeitabschnittes für jeden die
Dinge in der Nähe beobachtenden Deutschen etwas höchst Peinliches hatte.
Das lärmende, tollhäuslerische Gebahren, welches die "Ligue d'Alsace" und an¬
derer Agitationscliquen bei Gelegenheit der Option in Scene zu setzen bemüht
waren, mußte naturgemäß auf deutscher Seite Unwillen und Hohn wachrufen.
Doch das Alles spielte nur auf der Oberfläche; der wahre Schmerz scheut
ja die Oeffentlichkeit. Wer sich unbefangen danach umhörte, der erfuhr, daß
doch in unzähligen Familien die Losreißung von der Heimath als Gewissens-
pflicht betrachtet wurde. Wie hätte es anders sein können? Die jüngere Ge¬
neration, wenn nicht des ganzen Landes, so doch der Städte, war nun ein¬
mal in ausschließlich französischen Vorstellungen aufgewachsen, ein ausschlie߬
lich französischer Patriotismus war ihr anerzogen worden; kein Wunder, daß
jeder gewissenhafte und unabhängige Charakter sich sträubte, dem deutschen
Kaiser Heeresfolge zu leisten. Vor jeder derartigen Erscheinung mußte der füh¬
lende Deutsche nicht allein Achtung, sondern ein Gefühl unbeschreiblicher Un-
behaglichkeit empfinden; wußte er sich doch als einen Theil der unerbittlichen
Nothwendigkeit, welche an so manchem Heerde Scenen herzzerreißenden Jam¬
mers verursachte. Darum nichts begreiflicher, als das "Gott sei Dank", als
das verhängnißvolle Jahr vorüber war. Nun ist der Boden geebnet, die auf¬
bauende Arbeit kann in umfassender Weise beginnen.

Das schwierigste Problem der nächsten Zukunft ist die Heranziehung der
einheimischen Bevölkerung zur Theilnahme an dieser Arbeit. Es ist hohe
Zeit, dasselbe zu lösen. Nicht, als wollten wir behaupten, daß die Elsässer
ein heißes Verlangen nach dieser Theilnahme trügen. Aber der große Uebel¬
stand der gegenwärtigen Lage ist, daß die Bevölkerung die Fluth der Gesetz-


Ms dem Lisch.

Wie erwachend nach schwerem Alpdruck, so hat wohl gar manches Mit¬
glied der „deutschen Colonie" der Reichslande aufgeathmet, als es am Neu¬
jahrsmorgen auf die eben abgeschlossene Vergangenheit zurückblickte. Das
Jahr der Option und der ersten Recrutenaushebung hinter sich zu haben,
war lange der tägliche Seufzer gewesen — nun war es erreicht; frei erschien
die Bahn von den schlimmsten Hindernissen und leichteren Muthes ging man
an die Arbeit. Gewiß, das Gefühl hatte seine tiefe Berechtigung; doch es
entsprach ungleich mehr dem Gemüthszustande des Deutschen, als der thatsäch¬
lichen Lage der Dinge. Die positive Arbeit der Zukunft stellt weit schwieri¬
gere Aufgaben, als die mehr negative des verflossenen Jahres. Der Unter¬
schied ist nur, daß die Ziele der ersteren danach angethan sind, alle ernsten
politischen Kräfte zu freudigem Wirken anzuspornen, während der Zersetzungs-
und Läuterungsproceß des hinter uns liegenden Zeitabschnittes für jeden die
Dinge in der Nähe beobachtenden Deutschen etwas höchst Peinliches hatte.
Das lärmende, tollhäuslerische Gebahren, welches die „Ligue d'Alsace" und an¬
derer Agitationscliquen bei Gelegenheit der Option in Scene zu setzen bemüht
waren, mußte naturgemäß auf deutscher Seite Unwillen und Hohn wachrufen.
Doch das Alles spielte nur auf der Oberfläche; der wahre Schmerz scheut
ja die Oeffentlichkeit. Wer sich unbefangen danach umhörte, der erfuhr, daß
doch in unzähligen Familien die Losreißung von der Heimath als Gewissens-
pflicht betrachtet wurde. Wie hätte es anders sein können? Die jüngere Ge¬
neration, wenn nicht des ganzen Landes, so doch der Städte, war nun ein¬
mal in ausschließlich französischen Vorstellungen aufgewachsen, ein ausschlie߬
lich französischer Patriotismus war ihr anerzogen worden; kein Wunder, daß
jeder gewissenhafte und unabhängige Charakter sich sträubte, dem deutschen
Kaiser Heeresfolge zu leisten. Vor jeder derartigen Erscheinung mußte der füh¬
lende Deutsche nicht allein Achtung, sondern ein Gefühl unbeschreiblicher Un-
behaglichkeit empfinden; wußte er sich doch als einen Theil der unerbittlichen
Nothwendigkeit, welche an so manchem Heerde Scenen herzzerreißenden Jam¬
mers verursachte. Darum nichts begreiflicher, als das „Gott sei Dank", als
das verhängnißvolle Jahr vorüber war. Nun ist der Boden geebnet, die auf¬
bauende Arbeit kann in umfassender Weise beginnen.

Das schwierigste Problem der nächsten Zukunft ist die Heranziehung der
einheimischen Bevölkerung zur Theilnahme an dieser Arbeit. Es ist hohe
Zeit, dasselbe zu lösen. Nicht, als wollten wir behaupten, daß die Elsässer
ein heißes Verlangen nach dieser Theilnahme trügen. Aber der große Uebel¬
stand der gegenwärtigen Lage ist, daß die Bevölkerung die Fluth der Gesetz-


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[0204] Ms dem Lisch. Wie erwachend nach schwerem Alpdruck, so hat wohl gar manches Mit¬ glied der „deutschen Colonie" der Reichslande aufgeathmet, als es am Neu¬ jahrsmorgen auf die eben abgeschlossene Vergangenheit zurückblickte. Das Jahr der Option und der ersten Recrutenaushebung hinter sich zu haben, war lange der tägliche Seufzer gewesen — nun war es erreicht; frei erschien die Bahn von den schlimmsten Hindernissen und leichteren Muthes ging man an die Arbeit. Gewiß, das Gefühl hatte seine tiefe Berechtigung; doch es entsprach ungleich mehr dem Gemüthszustande des Deutschen, als der thatsäch¬ lichen Lage der Dinge. Die positive Arbeit der Zukunft stellt weit schwieri¬ gere Aufgaben, als die mehr negative des verflossenen Jahres. Der Unter¬ schied ist nur, daß die Ziele der ersteren danach angethan sind, alle ernsten politischen Kräfte zu freudigem Wirken anzuspornen, während der Zersetzungs- und Läuterungsproceß des hinter uns liegenden Zeitabschnittes für jeden die Dinge in der Nähe beobachtenden Deutschen etwas höchst Peinliches hatte. Das lärmende, tollhäuslerische Gebahren, welches die „Ligue d'Alsace" und an¬ derer Agitationscliquen bei Gelegenheit der Option in Scene zu setzen bemüht waren, mußte naturgemäß auf deutscher Seite Unwillen und Hohn wachrufen. Doch das Alles spielte nur auf der Oberfläche; der wahre Schmerz scheut ja die Oeffentlichkeit. Wer sich unbefangen danach umhörte, der erfuhr, daß doch in unzähligen Familien die Losreißung von der Heimath als Gewissens- pflicht betrachtet wurde. Wie hätte es anders sein können? Die jüngere Ge¬ neration, wenn nicht des ganzen Landes, so doch der Städte, war nun ein¬ mal in ausschließlich französischen Vorstellungen aufgewachsen, ein ausschlie߬ lich französischer Patriotismus war ihr anerzogen worden; kein Wunder, daß jeder gewissenhafte und unabhängige Charakter sich sträubte, dem deutschen Kaiser Heeresfolge zu leisten. Vor jeder derartigen Erscheinung mußte der füh¬ lende Deutsche nicht allein Achtung, sondern ein Gefühl unbeschreiblicher Un- behaglichkeit empfinden; wußte er sich doch als einen Theil der unerbittlichen Nothwendigkeit, welche an so manchem Heerde Scenen herzzerreißenden Jam¬ mers verursachte. Darum nichts begreiflicher, als das „Gott sei Dank", als das verhängnißvolle Jahr vorüber war. Nun ist der Boden geebnet, die auf¬ bauende Arbeit kann in umfassender Weise beginnen. Das schwierigste Problem der nächsten Zukunft ist die Heranziehung der einheimischen Bevölkerung zur Theilnahme an dieser Arbeit. Es ist hohe Zeit, dasselbe zu lösen. Nicht, als wollten wir behaupten, daß die Elsässer ein heißes Verlangen nach dieser Theilnahme trügen. Aber der große Uebel¬ stand der gegenwärtigen Lage ist, daß die Bevölkerung die Fluth der Gesetz-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 32, 1873, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341817_128991/204>, abgerufen am 02.10.2024.