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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Ueber seine geographische Lage kann ein Platz nicht hinaus und eine Stadt
ist an den Boden gefesselt. Zwei Franzosen waren es, welche, unbewußt,
Marseille den Stoß versetzten, den es jetzt schwer empfindet. Kaiser Napoleon
wünschte einen Krieg mit Oesterreich, er führte ihn durch, schuf Italiens Ein¬
heit und inaugurirte den Mont-Cenis-Tunnel. Ferdinand v. Lesseps projec-
tirte den Suez-Canal und führte ihn auch glücklich aus. Es ist merkwürdig
wie kurzsichtig man in commercieller Beziehung sein kann; so ging es den
Marseillern -- wir haben freilich jetzt gut reden! Hätten sie vorausgesehen
was kam -- sie würden sicher nicht dem italienischen Krieg zugejauchzt und
Herrn v. Lesseps als Abgeordneten in die Kammer geschickt haben. Als ihnen
aber die Augen aufgingen, da rächten sie sich so gut es gehen wollte. Wo
verfluchte man das Kaiserreich mehr als in Marseille, wo begrüßte man die
Republik freudiger als hier. Aber, was geschehen war, war nicht mehr zu
ändern.

Der Suezcanal ward eröffnet und er bewährt sich. Italien hat seine
Einheit und eine nationale Regierung mit nationalen Interessen, die dem
Handel wohlwill und durch Italien zu lenken versucht, und mit Erfolg lenkt,
was einst an Waarenströmung zum Theil über Marseille ging.

Wer heute Marseille, das republikanische, erschaut, erkennt die kaiserliche
Stadt nicht wieder. Wir haben die Rückseite des mattgewordenen Bildes vor
uns. Die Glorie früherer Tage schwindet, wenn sie nicht schon geschwunden
ist. Seht die Schifffahrt an, wie sie jetzt jährlich eine Abnahme zeigt, wie
die eigene Rhederei Marseilles gesunken ist und Fremde 'seine Schiffe gekauft
haben, denn der levantinische Handel hat unzweifelhaft begonnen neue Bahnen
einzuschlagen. Die Güter werden jetzt mehr und mehr in flachgehenden, aber
dennoch eine große Tonnenzahl haltenden Dampfern verfrachtet, deren Kohlen¬
verbrauch durch gute technische Vorrichtungen auf ein Minimum zurückgeführt
ist. Und diese Dampfer im Mittelmeer sind wesentlich in italienischen oder
englischen Händen, nehmen von italienischen Häfen ihren Ausgangspunkt.
Herrscht auch in MarseiZe noch Leben genug, sieht man auch noch gefüllte
Waarenhäuser, so ist es doch Thatsache, daß an vielen seiner sonst überfüllten
Kalm heute buchstäblich Gras wächst und die an den leeren Magazinen an¬
gehefteten Zettel mit Z, louLt- sagen das Uebrige. Wo sind sie denn geblieben,
die Ueberlandreisenden, die nach Aegypten und Indien von hier aus abgingen
und manchen Franken in Marseille sitzen ließen? Fragt die hungrig gewor¬
denen wehmüthigen Bootsleute, die Gepäckträger und ähnliche Menschen --
ihre Klagen geben Antwort und Auskunft.

Italiens Häfen dagegen sind im Aufschwung begriffen, und Venedig wie
Brindisi reißen mehr und mehr an sich, was Marseille einst besaß. Der Mont-
Cenis-Tunnel und die Brennerbahn thun ihre Schuldigkeit und das Loch, das


Ueber seine geographische Lage kann ein Platz nicht hinaus und eine Stadt
ist an den Boden gefesselt. Zwei Franzosen waren es, welche, unbewußt,
Marseille den Stoß versetzten, den es jetzt schwer empfindet. Kaiser Napoleon
wünschte einen Krieg mit Oesterreich, er führte ihn durch, schuf Italiens Ein¬
heit und inaugurirte den Mont-Cenis-Tunnel. Ferdinand v. Lesseps projec-
tirte den Suez-Canal und führte ihn auch glücklich aus. Es ist merkwürdig
wie kurzsichtig man in commercieller Beziehung sein kann; so ging es den
Marseillern — wir haben freilich jetzt gut reden! Hätten sie vorausgesehen
was kam — sie würden sicher nicht dem italienischen Krieg zugejauchzt und
Herrn v. Lesseps als Abgeordneten in die Kammer geschickt haben. Als ihnen
aber die Augen aufgingen, da rächten sie sich so gut es gehen wollte. Wo
verfluchte man das Kaiserreich mehr als in Marseille, wo begrüßte man die
Republik freudiger als hier. Aber, was geschehen war, war nicht mehr zu
ändern.

Der Suezcanal ward eröffnet und er bewährt sich. Italien hat seine
Einheit und eine nationale Regierung mit nationalen Interessen, die dem
Handel wohlwill und durch Italien zu lenken versucht, und mit Erfolg lenkt,
was einst an Waarenströmung zum Theil über Marseille ging.

Wer heute Marseille, das republikanische, erschaut, erkennt die kaiserliche
Stadt nicht wieder. Wir haben die Rückseite des mattgewordenen Bildes vor
uns. Die Glorie früherer Tage schwindet, wenn sie nicht schon geschwunden
ist. Seht die Schifffahrt an, wie sie jetzt jährlich eine Abnahme zeigt, wie
die eigene Rhederei Marseilles gesunken ist und Fremde 'seine Schiffe gekauft
haben, denn der levantinische Handel hat unzweifelhaft begonnen neue Bahnen
einzuschlagen. Die Güter werden jetzt mehr und mehr in flachgehenden, aber
dennoch eine große Tonnenzahl haltenden Dampfern verfrachtet, deren Kohlen¬
verbrauch durch gute technische Vorrichtungen auf ein Minimum zurückgeführt
ist. Und diese Dampfer im Mittelmeer sind wesentlich in italienischen oder
englischen Händen, nehmen von italienischen Häfen ihren Ausgangspunkt.
Herrscht auch in MarseiZe noch Leben genug, sieht man auch noch gefüllte
Waarenhäuser, so ist es doch Thatsache, daß an vielen seiner sonst überfüllten
Kalm heute buchstäblich Gras wächst und die an den leeren Magazinen an¬
gehefteten Zettel mit Z, louLt- sagen das Uebrige. Wo sind sie denn geblieben,
die Ueberlandreisenden, die nach Aegypten und Indien von hier aus abgingen
und manchen Franken in Marseille sitzen ließen? Fragt die hungrig gewor¬
denen wehmüthigen Bootsleute, die Gepäckträger und ähnliche Menschen —
ihre Klagen geben Antwort und Auskunft.

Italiens Häfen dagegen sind im Aufschwung begriffen, und Venedig wie
Brindisi reißen mehr und mehr an sich, was Marseille einst besaß. Der Mont-
Cenis-Tunnel und die Brennerbahn thun ihre Schuldigkeit und das Loch, das


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/74>, abgerufen am 02.07.2024.