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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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im Festungsviereck Stand gehalten und den bereits beginnenden Marsch der
preußischen Armee an den Rhein abgewartet hätte, so mußte der italienische
Krieg mit einer kläglichen Niederlage Frankreichs enden. Wie aber sollte
dieser Zustand geändert, wie eine brauchbare und zuverlässige Reserve geschaffen
werden?

Napoleon III. war unterrichtet und scharfblickend genug, um die Ursache
des Verdorrens der Neservekräfte zu erkennen. In einer Rede, welche er 18S7
an die großen Staatskörper gerichtet, hatte er die Absicht angekündigt, die
Dienstzeit auf 3 bis 2 Jahre zu reduciren. die fertige Mannschaft dann aber
als bereite Reserve 6 bis 6 Jahre lang zur Verfügung der Armee zu stellen.
Nur die Garde solle auch fernerhin als Elite aus alten Soldaten bestehen.*)
Kam der Plan zur Ausführung, so waren allerdings jährlich 90,000 Mann
wirklich auszubilden, aber die Armee, welche dann 9 Jahrgänge von je 90,000
Mann umfaßte, hätte nach Einberufung der Reserven und mit Einschluß der
Officiere und Unterofficiere 800,000 Mann gezählt -- eine Ehrfurcht gebie¬
tende Macht. Der Gedanke des Kaisers war jedoch von allen maßgebenden
Persönlichkeiten höchst ungünstig aufgenommen worden. Noch immer hielt
man die 7jährige oder wie sie sich in der Praxis meist gestaltete, fünfjährige
Dienstzeit für ganz unerläßlich zur Ausbildung des französischen Soldaten; die
Ideen Soult's (vgl. III. Quartal S. 448) waren noch überall herrschend, und der
Gedanke so kurzer Ausbildungsfristen großer Recrutencontingente. wie jenes
Project sie mit sich brachte, war den bequemen französischen Officieren gerade¬
zu unerträglich. Ein solches Verfahren hätte gar zu sehr an die in jedem
Jahre neubeginnende, rastlose Arbeit des preußischen Officiercorps erinnert,
welche Marschall Marmont "un t^van ä6eouiÄMnt" genannt, ein "uMicr
qui donne I'iäüo ein supxlies dos Dgna'iäLs" und das bei aller Anstrengung
doch nur eine "Mi'ac nktiomrlv poi'tLetioimöö" zu erziehen im Stande sei. --
War der Kaiser ein Mann von Energie und wahrem moralischem Muthe,
so mußte er jetzt nach den Erfahrungen des italienischen Feldzugs jenen Ge¬
danken von 18S7 entschieden wieder aufnehmen. Dazu aber hatte er nicht den
Muth; der Widerspruch seiner Prätorianer genügte; des Projectcs ward nicht
mehr erwähnt; noch weniger natürlich der allgemeinen Wehrpflicht.
Wie man über diese in den kundigsten und wolmeinendsten Kreisen Frankreichs
damals dachte, mögen Betrachtungen des Historikers Boutirac zeigen, der, wie
der Kaiser nach einer Lösung der schwierigen Heeresfrage suchend, folgender¬
maßen urtheilt:

"Die Conscription scheint definitiv in unsere Sitten übergegangen zu sein.
Einige bezeichnen sie als eine despotische Einrichtung, andere nennen sie con-



-) Loutii'Ap a. a. y.

im Festungsviereck Stand gehalten und den bereits beginnenden Marsch der
preußischen Armee an den Rhein abgewartet hätte, so mußte der italienische
Krieg mit einer kläglichen Niederlage Frankreichs enden. Wie aber sollte
dieser Zustand geändert, wie eine brauchbare und zuverlässige Reserve geschaffen
werden?

Napoleon III. war unterrichtet und scharfblickend genug, um die Ursache
des Verdorrens der Neservekräfte zu erkennen. In einer Rede, welche er 18S7
an die großen Staatskörper gerichtet, hatte er die Absicht angekündigt, die
Dienstzeit auf 3 bis 2 Jahre zu reduciren. die fertige Mannschaft dann aber
als bereite Reserve 6 bis 6 Jahre lang zur Verfügung der Armee zu stellen.
Nur die Garde solle auch fernerhin als Elite aus alten Soldaten bestehen.*)
Kam der Plan zur Ausführung, so waren allerdings jährlich 90,000 Mann
wirklich auszubilden, aber die Armee, welche dann 9 Jahrgänge von je 90,000
Mann umfaßte, hätte nach Einberufung der Reserven und mit Einschluß der
Officiere und Unterofficiere 800,000 Mann gezählt — eine Ehrfurcht gebie¬
tende Macht. Der Gedanke des Kaisers war jedoch von allen maßgebenden
Persönlichkeiten höchst ungünstig aufgenommen worden. Noch immer hielt
man die 7jährige oder wie sie sich in der Praxis meist gestaltete, fünfjährige
Dienstzeit für ganz unerläßlich zur Ausbildung des französischen Soldaten; die
Ideen Soult's (vgl. III. Quartal S. 448) waren noch überall herrschend, und der
Gedanke so kurzer Ausbildungsfristen großer Recrutencontingente. wie jenes
Project sie mit sich brachte, war den bequemen französischen Officieren gerade¬
zu unerträglich. Ein solches Verfahren hätte gar zu sehr an die in jedem
Jahre neubeginnende, rastlose Arbeit des preußischen Officiercorps erinnert,
welche Marschall Marmont „un t^van ä6eouiÄMnt" genannt, ein „uMicr
qui donne I'iäüo ein supxlies dos Dgna'iäLs" und das bei aller Anstrengung
doch nur eine „Mi'ac nktiomrlv poi'tLetioimöö" zu erziehen im Stande sei. —
War der Kaiser ein Mann von Energie und wahrem moralischem Muthe,
so mußte er jetzt nach den Erfahrungen des italienischen Feldzugs jenen Ge¬
danken von 18S7 entschieden wieder aufnehmen. Dazu aber hatte er nicht den
Muth; der Widerspruch seiner Prätorianer genügte; des Projectcs ward nicht
mehr erwähnt; noch weniger natürlich der allgemeinen Wehrpflicht.
Wie man über diese in den kundigsten und wolmeinendsten Kreisen Frankreichs
damals dachte, mögen Betrachtungen des Historikers Boutirac zeigen, der, wie
der Kaiser nach einer Lösung der schwierigen Heeresfrage suchend, folgender¬
maßen urtheilt:

„Die Conscription scheint definitiv in unsere Sitten übergegangen zu sein.
Einige bezeichnen sie als eine despotische Einrichtung, andere nennen sie con-



-) Loutii'Ap a. a. y.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/70>, abgerufen am 02.07.2024.