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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Wissenschaft nicht mehr so coneret, nicht mehr so derb, wenn wir so sagen
dürfen, in allen denen fühlbar macht, die auf seiner Bahn vorwärts gehen.
Aber jetzt ist diese Zeit noch nicht gekommen, wenn auch die krankhafte Eitel¬
keit dieser und jener kleiner und kleinster Lichter es wähnt, die weit über den
Meister hinausgekommen sein wollen, weil sie kleine zufällige Versehen dessel¬
ben, recht eigentliche laxLus ealami, an denen jeder anständige und bescheidene
Geist stillschweigend vorübergeht, mit großem Geräusch aufdecken und mit ihrem
Wissen, d. h. durch die Hilfsmittel, die sie auch nur bei ihm und nirgends
anders gelernt haben und nirgends anders lernen konnten, am wenigsten na¬
türlich aus ihrem eigenen unproductiven Geiste, zu corrigiren oder zu meistern
beflissen sind. Einstweilen ist es noch die höchste Ehre und das größte Lob,
wenn man von einem Buche, das in den Kreis der von Jacob Grimm ge¬
schaffenen Geisteswelt gehört, sagen kann, daß es des Meisters würdig
sei. -

"Roß und Reiter" würde nicht geschrieben, oder wenigstens nicht so ge¬
schrieben sein, wenn nicht die deutsche Mythologie zuerst die tiefen und viel¬
seitigen Bezüge der Thierwelt auf den Glauben und das Gemüthsleben, die
Cultur und die durch die Religion geweihte häusliche Sitte unserer Vorzeit
erschlossen hätte. Wer jemals einen Blick in das 21. Capitel jenes Buches
gethan hat, erinnert sich, wie dort unter allen den heiligen Geschöpfen das
Pferd, das edelste, klügste, vertrauteste Hausthier, mit besonderer Hervorhebung
behandelt wird. Auch sonst, wo der Schöpfer unseres Wissens von dem
Glaubensleben unserer Volksseele gelegentlich auf die Bedeutung dieses Thieres
in den Cultusgebräuchen überhaupt, in dem Mythenkreise dieses oder jenes
Gottes oder Heroen, in der Zauber- oder Wahrsagerkunst zurückkommt, geschieht
es immer mit einer fühlbaren, der Stimmung des Volkes genau ent¬
sprechenden Wärme der Zuneigung, die auf den Leser sympathisch wirkt, auch
wenn er, wie es den meisten unserer Stubengelehrten geht, gar wenig Gele¬
genheit gehabt hat, sich mit eigenen Augen und durch eigene Erfahrung mit
der Individualität dieser Thiergestalt vertraut zu machen und sie lieb zu ge¬
winnen. Es läßt sich aber leicht begreifen, wie ein pasfionirter Reiter und
wirklicher berufsmäßiger Pferdekenner von diesen Stimmen und Zeugnissen
unseres Volkes gerade für dieses Thier ergriffen und so zu sagen begeistert
werden muß. Erfährt er doch daraus, was für jedes wohlgeordnete Gemüth
der Hauptreiz und zugleich der Hauptwerth der Geschichte im allgemeinen ist,
daß seine Stimmung nicht die eines zufälligen Individuums, auch nicht die
der zufälligen Mode des Tages ist, sondern in der Tiefe der Seelenanlage
seines ganzen Volkes wurzelt. Und in diesem Sinne möchten wir die tiefste
und nachhaltigste Anregung zu dem Buche vorzugsweise in Grimm's Mytho¬
logie suchen, wie denn auch begreiflich ein großer Theil des Materials, das


Wissenschaft nicht mehr so coneret, nicht mehr so derb, wenn wir so sagen
dürfen, in allen denen fühlbar macht, die auf seiner Bahn vorwärts gehen.
Aber jetzt ist diese Zeit noch nicht gekommen, wenn auch die krankhafte Eitel¬
keit dieser und jener kleiner und kleinster Lichter es wähnt, die weit über den
Meister hinausgekommen sein wollen, weil sie kleine zufällige Versehen dessel¬
ben, recht eigentliche laxLus ealami, an denen jeder anständige und bescheidene
Geist stillschweigend vorübergeht, mit großem Geräusch aufdecken und mit ihrem
Wissen, d. h. durch die Hilfsmittel, die sie auch nur bei ihm und nirgends
anders gelernt haben und nirgends anders lernen konnten, am wenigsten na¬
türlich aus ihrem eigenen unproductiven Geiste, zu corrigiren oder zu meistern
beflissen sind. Einstweilen ist es noch die höchste Ehre und das größte Lob,
wenn man von einem Buche, das in den Kreis der von Jacob Grimm ge¬
schaffenen Geisteswelt gehört, sagen kann, daß es des Meisters würdig
sei. -

„Roß und Reiter" würde nicht geschrieben, oder wenigstens nicht so ge¬
schrieben sein, wenn nicht die deutsche Mythologie zuerst die tiefen und viel¬
seitigen Bezüge der Thierwelt auf den Glauben und das Gemüthsleben, die
Cultur und die durch die Religion geweihte häusliche Sitte unserer Vorzeit
erschlossen hätte. Wer jemals einen Blick in das 21. Capitel jenes Buches
gethan hat, erinnert sich, wie dort unter allen den heiligen Geschöpfen das
Pferd, das edelste, klügste, vertrauteste Hausthier, mit besonderer Hervorhebung
behandelt wird. Auch sonst, wo der Schöpfer unseres Wissens von dem
Glaubensleben unserer Volksseele gelegentlich auf die Bedeutung dieses Thieres
in den Cultusgebräuchen überhaupt, in dem Mythenkreise dieses oder jenes
Gottes oder Heroen, in der Zauber- oder Wahrsagerkunst zurückkommt, geschieht
es immer mit einer fühlbaren, der Stimmung des Volkes genau ent¬
sprechenden Wärme der Zuneigung, die auf den Leser sympathisch wirkt, auch
wenn er, wie es den meisten unserer Stubengelehrten geht, gar wenig Gele¬
genheit gehabt hat, sich mit eigenen Augen und durch eigene Erfahrung mit
der Individualität dieser Thiergestalt vertraut zu machen und sie lieb zu ge¬
winnen. Es läßt sich aber leicht begreifen, wie ein pasfionirter Reiter und
wirklicher berufsmäßiger Pferdekenner von diesen Stimmen und Zeugnissen
unseres Volkes gerade für dieses Thier ergriffen und so zu sagen begeistert
werden muß. Erfährt er doch daraus, was für jedes wohlgeordnete Gemüth
der Hauptreiz und zugleich der Hauptwerth der Geschichte im allgemeinen ist,
daß seine Stimmung nicht die eines zufälligen Individuums, auch nicht die
der zufälligen Mode des Tages ist, sondern in der Tiefe der Seelenanlage
seines ganzen Volkes wurzelt. Und in diesem Sinne möchten wir die tiefste
und nachhaltigste Anregung zu dem Buche vorzugsweise in Grimm's Mytho¬
logie suchen, wie denn auch begreiflich ein großer Theil des Materials, das


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[0411] Wissenschaft nicht mehr so coneret, nicht mehr so derb, wenn wir so sagen dürfen, in allen denen fühlbar macht, die auf seiner Bahn vorwärts gehen. Aber jetzt ist diese Zeit noch nicht gekommen, wenn auch die krankhafte Eitel¬ keit dieser und jener kleiner und kleinster Lichter es wähnt, die weit über den Meister hinausgekommen sein wollen, weil sie kleine zufällige Versehen dessel¬ ben, recht eigentliche laxLus ealami, an denen jeder anständige und bescheidene Geist stillschweigend vorübergeht, mit großem Geräusch aufdecken und mit ihrem Wissen, d. h. durch die Hilfsmittel, die sie auch nur bei ihm und nirgends anders gelernt haben und nirgends anders lernen konnten, am wenigsten na¬ türlich aus ihrem eigenen unproductiven Geiste, zu corrigiren oder zu meistern beflissen sind. Einstweilen ist es noch die höchste Ehre und das größte Lob, wenn man von einem Buche, das in den Kreis der von Jacob Grimm ge¬ schaffenen Geisteswelt gehört, sagen kann, daß es des Meisters würdig sei. - „Roß und Reiter" würde nicht geschrieben, oder wenigstens nicht so ge¬ schrieben sein, wenn nicht die deutsche Mythologie zuerst die tiefen und viel¬ seitigen Bezüge der Thierwelt auf den Glauben und das Gemüthsleben, die Cultur und die durch die Religion geweihte häusliche Sitte unserer Vorzeit erschlossen hätte. Wer jemals einen Blick in das 21. Capitel jenes Buches gethan hat, erinnert sich, wie dort unter allen den heiligen Geschöpfen das Pferd, das edelste, klügste, vertrauteste Hausthier, mit besonderer Hervorhebung behandelt wird. Auch sonst, wo der Schöpfer unseres Wissens von dem Glaubensleben unserer Volksseele gelegentlich auf die Bedeutung dieses Thieres in den Cultusgebräuchen überhaupt, in dem Mythenkreise dieses oder jenes Gottes oder Heroen, in der Zauber- oder Wahrsagerkunst zurückkommt, geschieht es immer mit einer fühlbaren, der Stimmung des Volkes genau ent¬ sprechenden Wärme der Zuneigung, die auf den Leser sympathisch wirkt, auch wenn er, wie es den meisten unserer Stubengelehrten geht, gar wenig Gele¬ genheit gehabt hat, sich mit eigenen Augen und durch eigene Erfahrung mit der Individualität dieser Thiergestalt vertraut zu machen und sie lieb zu ge¬ winnen. Es läßt sich aber leicht begreifen, wie ein pasfionirter Reiter und wirklicher berufsmäßiger Pferdekenner von diesen Stimmen und Zeugnissen unseres Volkes gerade für dieses Thier ergriffen und so zu sagen begeistert werden muß. Erfährt er doch daraus, was für jedes wohlgeordnete Gemüth der Hauptreiz und zugleich der Hauptwerth der Geschichte im allgemeinen ist, daß seine Stimmung nicht die eines zufälligen Individuums, auch nicht die der zufälligen Mode des Tages ist, sondern in der Tiefe der Seelenanlage seines ganzen Volkes wurzelt. Und in diesem Sinne möchten wir die tiefste und nachhaltigste Anregung zu dem Buche vorzugsweise in Grimm's Mytho¬ logie suchen, wie denn auch begreiflich ein großer Theil des Materials, das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/411>, abgerufen am 04.07.2024.