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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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der spätere Culturhistoriker benutzt, schon von dem Altmeister zusammengebracht
worden war. Ebenso begreiflich aber ist es, daß der spätere Forscher auf seinem
eigenen Wege, den ihm die Hand seines Führers gewiesen, noch manche
Nachlese gefunden hat. Seit dem Jahre 1844 ist ja, wie jedermann weiß,
eine unendlich fleißige Thätigkeit erwacht, alle die Reste unserer Vorzeit, die
sich in diesem oder jenem Versteck, vor den Unbilden der Zeit und der sie
nicht mehr verstehenden Menschen geborgen hatten, sorgfältig hervorzuziehen und
durch Einfügung an die rechte Stelle wieder zu neuem idealem Leben zu wecken.
Mit vorzüglichem Eifer ist dies in Bezug auf alles das geschehen, was zu
unserm ursprünglichen Glauben, zu der idealen Welt- und Naturanschauung
unserer heidnischen oder äußerlich christlich gefärbten Altvordern gehört und
in dieser Hinsicht ist jeder spätere Forscher mit Wahrheit in den Stand gesetzt,
den Meister zu übertreffen.

Neben der Mythologie ist es die Geschichte der deutschen Sprache, worin
dem Verhältniß der Thierwelt zu unserer Volksseele einige der ausführlichsten
Abschnitte gewidmet sind, so besonders Cap. 2, 3 u. 5. Hier kommt es darauf
an, aus dem unermeßlichen Einblick in die Sprache nicht bloß einer Periode
deutschen Lebens, sondern aller seiner Perioden, wie ihn Jacob Grimm ge¬
öffnet und selbst bisher unübertroffen besessen und gebraucht hat, das eigentliche
Fühlen und Empfinden, das besondere Motiv der Phantasie und des Ver¬
standes herauszufinden und gleichsam neu zu erzeugen, welche die ursprüngliche
Namengebung veranlaßt haben. Von einer solchen Verwerthung linguistischer
Momente, wie sie durch Jacob Grimm zuerst gezeigt und in großartigster
Ausdehnung gehandhabt worden ist, hat vor ihm die Culturgeschichte oder
die Wissenschaft überhaupt keine Ahnung gehabt. Jetzt wird Niemand, der
ein culturgeschichtliches Thema behandelt, sich dieses Weges entschlagen können,
und mit welchem Erfolge er betreten werden kann, davon legt "Roß und
Reiter" ein vollgiltiges Zeugniß ab. Selbstverständlich wird hier immer der
Subjectivität, dem in sich selbst gefestigten Jnstinct oder nennen wir es lieber
der selbstgewisser Intuition, ein weiterer Spielraum verstattet sein, als etwa in
den sog. exacten Wissenschaften, und die Ergebnisse können nicht auf dieselbe
allgemein und unter allen Bedingungen absolut unantastbare Richtigkeit
Anspruch machen, wie ein richtig gerechnetes Exempel. subjective Anlage,
reiche Uebung und Erfahrung, vor allem ein angeborener Sinn für das
eigentlich volkstümliche, für die Besonderheit der Stimmungen und Mischungen
einer Volksseele, sind hier ebenso wünschenswert!), wie die solideste Methodik
des Lernens und Wissens und die routinirteste Technik. Unter allen wird
sich niemand in Hinsicht aus die harmonische Vereinigung aller dieser Eigen¬
schaften mit dem Altmeister selbst vergleichen lassen. Auch da, wo er anderer
subjectiver Anschauung nach, sich gelegentlich einmal zu einem Irrthum hat


der spätere Culturhistoriker benutzt, schon von dem Altmeister zusammengebracht
worden war. Ebenso begreiflich aber ist es, daß der spätere Forscher auf seinem
eigenen Wege, den ihm die Hand seines Führers gewiesen, noch manche
Nachlese gefunden hat. Seit dem Jahre 1844 ist ja, wie jedermann weiß,
eine unendlich fleißige Thätigkeit erwacht, alle die Reste unserer Vorzeit, die
sich in diesem oder jenem Versteck, vor den Unbilden der Zeit und der sie
nicht mehr verstehenden Menschen geborgen hatten, sorgfältig hervorzuziehen und
durch Einfügung an die rechte Stelle wieder zu neuem idealem Leben zu wecken.
Mit vorzüglichem Eifer ist dies in Bezug auf alles das geschehen, was zu
unserm ursprünglichen Glauben, zu der idealen Welt- und Naturanschauung
unserer heidnischen oder äußerlich christlich gefärbten Altvordern gehört und
in dieser Hinsicht ist jeder spätere Forscher mit Wahrheit in den Stand gesetzt,
den Meister zu übertreffen.

Neben der Mythologie ist es die Geschichte der deutschen Sprache, worin
dem Verhältniß der Thierwelt zu unserer Volksseele einige der ausführlichsten
Abschnitte gewidmet sind, so besonders Cap. 2, 3 u. 5. Hier kommt es darauf
an, aus dem unermeßlichen Einblick in die Sprache nicht bloß einer Periode
deutschen Lebens, sondern aller seiner Perioden, wie ihn Jacob Grimm ge¬
öffnet und selbst bisher unübertroffen besessen und gebraucht hat, das eigentliche
Fühlen und Empfinden, das besondere Motiv der Phantasie und des Ver¬
standes herauszufinden und gleichsam neu zu erzeugen, welche die ursprüngliche
Namengebung veranlaßt haben. Von einer solchen Verwerthung linguistischer
Momente, wie sie durch Jacob Grimm zuerst gezeigt und in großartigster
Ausdehnung gehandhabt worden ist, hat vor ihm die Culturgeschichte oder
die Wissenschaft überhaupt keine Ahnung gehabt. Jetzt wird Niemand, der
ein culturgeschichtliches Thema behandelt, sich dieses Weges entschlagen können,
und mit welchem Erfolge er betreten werden kann, davon legt „Roß und
Reiter" ein vollgiltiges Zeugniß ab. Selbstverständlich wird hier immer der
Subjectivität, dem in sich selbst gefestigten Jnstinct oder nennen wir es lieber
der selbstgewisser Intuition, ein weiterer Spielraum verstattet sein, als etwa in
den sog. exacten Wissenschaften, und die Ergebnisse können nicht auf dieselbe
allgemein und unter allen Bedingungen absolut unantastbare Richtigkeit
Anspruch machen, wie ein richtig gerechnetes Exempel. subjective Anlage,
reiche Uebung und Erfahrung, vor allem ein angeborener Sinn für das
eigentlich volkstümliche, für die Besonderheit der Stimmungen und Mischungen
einer Volksseele, sind hier ebenso wünschenswert!), wie die solideste Methodik
des Lernens und Wissens und die routinirteste Technik. Unter allen wird
sich niemand in Hinsicht aus die harmonische Vereinigung aller dieser Eigen¬
schaften mit dem Altmeister selbst vergleichen lassen. Auch da, wo er anderer
subjectiver Anschauung nach, sich gelegentlich einmal zu einem Irrthum hat


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/412>, abgerufen am 04.07.2024.