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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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den Sitzungen des vereinigten Landtages zu. Er war weder mit der Regie¬
rung noch mit der Opposition einverstanden: er sah aus beiden Seiten Halb¬
heit und Unklarheit. Mag bei diesem Urtheil auch die Erinnerung an das
englische Parlament seine Kritik etwas zu scharf zugespitzt haben, jedenfalls
war ihm klar geworden, daß die Dinge in Berlin endlich in Bewegung ge¬
kommen.

Schon feit einiger Zeit hatte Stockmar die Symptome einer herannahen¬
den revolutionären Krisis zu erkennen geglaubt, ganz besonders in Frankreich.
Ueber die Wirthschaft der Orleans ist von einem Anhänger der gemäßigten
Mittelparteien selten ein vernichtenderes Urtheil gesprochen worden als von
Stockmar. Die Intriguen der spanischen Heirathen, das unwahrhafte Ränke¬
spiel des scheinheiligen Guizot hatte ihn mit gerechter sittlicher Entrüstung
erfüllt: er weissagte nichts Gutes. Die Pariser Februarrevolution traf ihn
also nicht unvorbereitet; für ihn stand sie in engstem Zusammenhange mit
jener schmachvollen Geschichte der spanischen Heirathen: er hatte etwas Aehn-
liches erwartet. Als Staatsphilosoph aber schöpfte er für sein konstitutionelles
System aus dem französischen Beispiel Lehren und zog Nutzanwendungen
daraus für andere Länder.

Die deutsche Bewegung von 1848 griff ihm recht eigentlich ins innerste
Herz. Mit dem nationalen Ziele derselben war er ganz einverstanden; die
deutsche Einheit hatte seine vollste Sympathie: was er seit 1814 als Auf¬
gabe der deutschen Entwickelung gesehen, das also sollte jetzt wirklich ins
Leben treten! Die öffentliche Stimmung, welche eine größere Einheit in
Deutschland forderte, begrüßte er freudig. Im März äußerte er seine Ge¬
danken, die eine merkwürdige Klarheit uns zeigen, wenn wir sie mit den
Ideen Anderer vergleichen. Daß man in Berlin an entscheidender Stelle
hinter dem öffentlichen Impulse zurückblieb, "schweigend, zaudernd und wie
es scheint halb unentschlossen, halb dem Irrthum zugewandt", -- darüber
empfand er allerdings sofort beunruhigende Bedenken. Würde sich dagegen
das preußische Königthum an die Spitze der Bewegung stellen, so hoffte er
eine dauernde Beruhigung des Volkes, sonst fürchtete er den Riß zwischen
Norden und Süden entstehen zu sehn. "Heute noch würde ich eine Consti-
tuirung sämmtlicher constitutionellen Staaten Deutschlands in einem Bundes¬
staat unter dem Vorsitz des Königs von Preußen als Kaiser von Deutschland
für möglich halten. In diesem Bundesstaat kann vor der Hand Oestreich
gar keine Stelle finden." Und wir meinen mit einer Bestimmtheit und Klar¬
heit, wie sie damals nur wenigen Politikern zu Theil geworden, sprach da¬
mals, am 18. März 1848, Stockmar die beiden Gedanken aus, von denen
die Zukunft Deutschlands in der That abhing: 1) Oestreich hat einstweilen
aus dem deutschen Bunde auszuscheiden, 2) in engem Anschluß an den oren-


den Sitzungen des vereinigten Landtages zu. Er war weder mit der Regie¬
rung noch mit der Opposition einverstanden: er sah aus beiden Seiten Halb¬
heit und Unklarheit. Mag bei diesem Urtheil auch die Erinnerung an das
englische Parlament seine Kritik etwas zu scharf zugespitzt haben, jedenfalls
war ihm klar geworden, daß die Dinge in Berlin endlich in Bewegung ge¬
kommen.

Schon feit einiger Zeit hatte Stockmar die Symptome einer herannahen¬
den revolutionären Krisis zu erkennen geglaubt, ganz besonders in Frankreich.
Ueber die Wirthschaft der Orleans ist von einem Anhänger der gemäßigten
Mittelparteien selten ein vernichtenderes Urtheil gesprochen worden als von
Stockmar. Die Intriguen der spanischen Heirathen, das unwahrhafte Ränke¬
spiel des scheinheiligen Guizot hatte ihn mit gerechter sittlicher Entrüstung
erfüllt: er weissagte nichts Gutes. Die Pariser Februarrevolution traf ihn
also nicht unvorbereitet; für ihn stand sie in engstem Zusammenhange mit
jener schmachvollen Geschichte der spanischen Heirathen: er hatte etwas Aehn-
liches erwartet. Als Staatsphilosoph aber schöpfte er für sein konstitutionelles
System aus dem französischen Beispiel Lehren und zog Nutzanwendungen
daraus für andere Länder.

Die deutsche Bewegung von 1848 griff ihm recht eigentlich ins innerste
Herz. Mit dem nationalen Ziele derselben war er ganz einverstanden; die
deutsche Einheit hatte seine vollste Sympathie: was er seit 1814 als Auf¬
gabe der deutschen Entwickelung gesehen, das also sollte jetzt wirklich ins
Leben treten! Die öffentliche Stimmung, welche eine größere Einheit in
Deutschland forderte, begrüßte er freudig. Im März äußerte er seine Ge¬
danken, die eine merkwürdige Klarheit uns zeigen, wenn wir sie mit den
Ideen Anderer vergleichen. Daß man in Berlin an entscheidender Stelle
hinter dem öffentlichen Impulse zurückblieb, „schweigend, zaudernd und wie
es scheint halb unentschlossen, halb dem Irrthum zugewandt", — darüber
empfand er allerdings sofort beunruhigende Bedenken. Würde sich dagegen
das preußische Königthum an die Spitze der Bewegung stellen, so hoffte er
eine dauernde Beruhigung des Volkes, sonst fürchtete er den Riß zwischen
Norden und Süden entstehen zu sehn. „Heute noch würde ich eine Consti-
tuirung sämmtlicher constitutionellen Staaten Deutschlands in einem Bundes¬
staat unter dem Vorsitz des Königs von Preußen als Kaiser von Deutschland
für möglich halten. In diesem Bundesstaat kann vor der Hand Oestreich
gar keine Stelle finden." Und wir meinen mit einer Bestimmtheit und Klar¬
heit, wie sie damals nur wenigen Politikern zu Theil geworden, sprach da¬
mals, am 18. März 1848, Stockmar die beiden Gedanken aus, von denen
die Zukunft Deutschlands in der That abhing: 1) Oestreich hat einstweilen
aus dem deutschen Bunde auszuscheiden, 2) in engem Anschluß an den oren-


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[0335] den Sitzungen des vereinigten Landtages zu. Er war weder mit der Regie¬ rung noch mit der Opposition einverstanden: er sah aus beiden Seiten Halb¬ heit und Unklarheit. Mag bei diesem Urtheil auch die Erinnerung an das englische Parlament seine Kritik etwas zu scharf zugespitzt haben, jedenfalls war ihm klar geworden, daß die Dinge in Berlin endlich in Bewegung ge¬ kommen. Schon feit einiger Zeit hatte Stockmar die Symptome einer herannahen¬ den revolutionären Krisis zu erkennen geglaubt, ganz besonders in Frankreich. Ueber die Wirthschaft der Orleans ist von einem Anhänger der gemäßigten Mittelparteien selten ein vernichtenderes Urtheil gesprochen worden als von Stockmar. Die Intriguen der spanischen Heirathen, das unwahrhafte Ränke¬ spiel des scheinheiligen Guizot hatte ihn mit gerechter sittlicher Entrüstung erfüllt: er weissagte nichts Gutes. Die Pariser Februarrevolution traf ihn also nicht unvorbereitet; für ihn stand sie in engstem Zusammenhange mit jener schmachvollen Geschichte der spanischen Heirathen: er hatte etwas Aehn- liches erwartet. Als Staatsphilosoph aber schöpfte er für sein konstitutionelles System aus dem französischen Beispiel Lehren und zog Nutzanwendungen daraus für andere Länder. Die deutsche Bewegung von 1848 griff ihm recht eigentlich ins innerste Herz. Mit dem nationalen Ziele derselben war er ganz einverstanden; die deutsche Einheit hatte seine vollste Sympathie: was er seit 1814 als Auf¬ gabe der deutschen Entwickelung gesehen, das also sollte jetzt wirklich ins Leben treten! Die öffentliche Stimmung, welche eine größere Einheit in Deutschland forderte, begrüßte er freudig. Im März äußerte er seine Ge¬ danken, die eine merkwürdige Klarheit uns zeigen, wenn wir sie mit den Ideen Anderer vergleichen. Daß man in Berlin an entscheidender Stelle hinter dem öffentlichen Impulse zurückblieb, „schweigend, zaudernd und wie es scheint halb unentschlossen, halb dem Irrthum zugewandt", — darüber empfand er allerdings sofort beunruhigende Bedenken. Würde sich dagegen das preußische Königthum an die Spitze der Bewegung stellen, so hoffte er eine dauernde Beruhigung des Volkes, sonst fürchtete er den Riß zwischen Norden und Süden entstehen zu sehn. „Heute noch würde ich eine Consti- tuirung sämmtlicher constitutionellen Staaten Deutschlands in einem Bundes¬ staat unter dem Vorsitz des Königs von Preußen als Kaiser von Deutschland für möglich halten. In diesem Bundesstaat kann vor der Hand Oestreich gar keine Stelle finden." Und wir meinen mit einer Bestimmtheit und Klar¬ heit, wie sie damals nur wenigen Politikern zu Theil geworden, sprach da¬ mals, am 18. März 1848, Stockmar die beiden Gedanken aus, von denen die Zukunft Deutschlands in der That abhing: 1) Oestreich hat einstweilen aus dem deutschen Bunde auszuscheiden, 2) in engem Anschluß an den oren-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/335>, abgerufen am 22.07.2024.