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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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und dem früheren Großherzogthum Berg liegt in dem Gebirgsknoten. der von
den Ausläufern des Westerwaldes und des Rothaargebirges gebildet wird, das
"Wittgensteinsche". Berge mit schönstem Buchenwald bedeckt, schmale gewun¬
dene Thäler mit saftigen Wiesen, kleine Dörfer, Viehheerden, Kohlenmeiler,
Forellenbäche bilden den landschaftlichen Character dieses anmuthigen
Stückchens Erde, Hier siedelte der Graf Kasimir von Wittgenstein vor
etwa dreihundert Jahren eine Anzahl wandernder Zigeuner an, die noch
jetzt in drei Colonien fortvegetiren. Die eine derselben, die "Lause"
genannt, liegt eine Achtelmeile von Berleburg, einige hundert Schritt
von der Landstraße, hart am Walde und besteht aus 7 Hütten und 32 Be¬
wohnern. Die andere, ebenfalls nicht weit von Berleburg entfernt, heißt
"Altengraben" und zählt in zwei Hütten eine Bevölkerung von 22 Köpfen.
Die dritte endlich befindet sich bei dem Dorfe Saßmannshausen und umfaßt
38 Menschen in 8 Hütten. Alle drei Zigeunerdörfer tragen denselben Cha¬
racter: die Häuser derselben sind elende Geniste aus Besen und Holz, das
Geschirr und Geräth darin besteht aus einigen Töpfen und Schüsseln, einigen
Brettern und Klötzen, das Volk, das in diesen Baraken haust, ist faules
schmutziges Gesindel.

Als die Zigeuner sich hier niederließen, waren sie Heiden oder wenn man
will ohne alle Religion. Gegen reichliche Pathengeschenke ließen sie sich be¬
wegen, Protestanten zu werden. Später verdienten sie sich wieder Pathengeld
durch Uebertritt zur katholischen Kirche, dann nochmals, indem sie von Neuem
evangelisch wurden. Sie hätten dieses Wechseln des Rockes in mtmitum fort¬
gesetzt, wenn die betreffenden wackeren Seelenhirten den Schwindel nicht zu¬
letzt gemerkt hätten. Jetzt gelten die beiden zuerst erwähnten Dörfer für ka¬
tholisch', das dritte für protestantisch.

Die wittgensteinschen Zigeuner leben fast nur vom Bettel und kleinen
Diebereien. Ihre Faulheit ist geradezu ungeheuer. Sie lernen nichts und
verstehen nichts und hungern lieber, als daß sie sich der kleinsten Arbeit
unterziehen, liegen im Sommer in der Sonne und frieren im Winter, obwohl
sie den Wald, wo sie Brennholz holen könnten, vor der Thür haben. Immer
wird ohne Gedanken an die Zukunft in den Tag hineingelebt. Niemals wird
ein dortiger Zigeuner eine Arbeit übernehmen, für die er nicht gleich an dem¬
selben Tage den Lohn erhält; denn mit dem Morgen rechnet er nicht. "Eines
Abends", so erzählt Dorn, "kommt ein alter Herr, Graf T., auf einem Spa¬
ziergange an einen angeschwollenen Bach, der für gewöhnlich mit Hülfe zweier
großer Steine ohne Mühe zu überschreiten, jetzt aber durch den Regen in ein
knietiefes und einige Ruthen breites Flüßchen verwandelt ist. Als er verlegen
umherblickt, kommt so ein Schwarzkopf den Waldeshang herunter. "He,
Andres, Du hast ja breite und starke Schultern, willst Du mich über den


und dem früheren Großherzogthum Berg liegt in dem Gebirgsknoten. der von
den Ausläufern des Westerwaldes und des Rothaargebirges gebildet wird, das
„Wittgensteinsche". Berge mit schönstem Buchenwald bedeckt, schmale gewun¬
dene Thäler mit saftigen Wiesen, kleine Dörfer, Viehheerden, Kohlenmeiler,
Forellenbäche bilden den landschaftlichen Character dieses anmuthigen
Stückchens Erde, Hier siedelte der Graf Kasimir von Wittgenstein vor
etwa dreihundert Jahren eine Anzahl wandernder Zigeuner an, die noch
jetzt in drei Colonien fortvegetiren. Die eine derselben, die „Lause"
genannt, liegt eine Achtelmeile von Berleburg, einige hundert Schritt
von der Landstraße, hart am Walde und besteht aus 7 Hütten und 32 Be¬
wohnern. Die andere, ebenfalls nicht weit von Berleburg entfernt, heißt
„Altengraben" und zählt in zwei Hütten eine Bevölkerung von 22 Köpfen.
Die dritte endlich befindet sich bei dem Dorfe Saßmannshausen und umfaßt
38 Menschen in 8 Hütten. Alle drei Zigeunerdörfer tragen denselben Cha¬
racter: die Häuser derselben sind elende Geniste aus Besen und Holz, das
Geschirr und Geräth darin besteht aus einigen Töpfen und Schüsseln, einigen
Brettern und Klötzen, das Volk, das in diesen Baraken haust, ist faules
schmutziges Gesindel.

Als die Zigeuner sich hier niederließen, waren sie Heiden oder wenn man
will ohne alle Religion. Gegen reichliche Pathengeschenke ließen sie sich be¬
wegen, Protestanten zu werden. Später verdienten sie sich wieder Pathengeld
durch Uebertritt zur katholischen Kirche, dann nochmals, indem sie von Neuem
evangelisch wurden. Sie hätten dieses Wechseln des Rockes in mtmitum fort¬
gesetzt, wenn die betreffenden wackeren Seelenhirten den Schwindel nicht zu¬
letzt gemerkt hätten. Jetzt gelten die beiden zuerst erwähnten Dörfer für ka¬
tholisch', das dritte für protestantisch.

Die wittgensteinschen Zigeuner leben fast nur vom Bettel und kleinen
Diebereien. Ihre Faulheit ist geradezu ungeheuer. Sie lernen nichts und
verstehen nichts und hungern lieber, als daß sie sich der kleinsten Arbeit
unterziehen, liegen im Sommer in der Sonne und frieren im Winter, obwohl
sie den Wald, wo sie Brennholz holen könnten, vor der Thür haben. Immer
wird ohne Gedanken an die Zukunft in den Tag hineingelebt. Niemals wird
ein dortiger Zigeuner eine Arbeit übernehmen, für die er nicht gleich an dem¬
selben Tage den Lohn erhält; denn mit dem Morgen rechnet er nicht. „Eines
Abends", so erzählt Dorn, „kommt ein alter Herr, Graf T., auf einem Spa¬
ziergange an einen angeschwollenen Bach, der für gewöhnlich mit Hülfe zweier
großer Steine ohne Mühe zu überschreiten, jetzt aber durch den Regen in ein
knietiefes und einige Ruthen breites Flüßchen verwandelt ist. Als er verlegen
umherblickt, kommt so ein Schwarzkopf den Waldeshang herunter. „He,
Andres, Du hast ja breite und starke Schultern, willst Du mich über den


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[0258] und dem früheren Großherzogthum Berg liegt in dem Gebirgsknoten. der von den Ausläufern des Westerwaldes und des Rothaargebirges gebildet wird, das „Wittgensteinsche". Berge mit schönstem Buchenwald bedeckt, schmale gewun¬ dene Thäler mit saftigen Wiesen, kleine Dörfer, Viehheerden, Kohlenmeiler, Forellenbäche bilden den landschaftlichen Character dieses anmuthigen Stückchens Erde, Hier siedelte der Graf Kasimir von Wittgenstein vor etwa dreihundert Jahren eine Anzahl wandernder Zigeuner an, die noch jetzt in drei Colonien fortvegetiren. Die eine derselben, die „Lause" genannt, liegt eine Achtelmeile von Berleburg, einige hundert Schritt von der Landstraße, hart am Walde und besteht aus 7 Hütten und 32 Be¬ wohnern. Die andere, ebenfalls nicht weit von Berleburg entfernt, heißt „Altengraben" und zählt in zwei Hütten eine Bevölkerung von 22 Köpfen. Die dritte endlich befindet sich bei dem Dorfe Saßmannshausen und umfaßt 38 Menschen in 8 Hütten. Alle drei Zigeunerdörfer tragen denselben Cha¬ racter: die Häuser derselben sind elende Geniste aus Besen und Holz, das Geschirr und Geräth darin besteht aus einigen Töpfen und Schüsseln, einigen Brettern und Klötzen, das Volk, das in diesen Baraken haust, ist faules schmutziges Gesindel. Als die Zigeuner sich hier niederließen, waren sie Heiden oder wenn man will ohne alle Religion. Gegen reichliche Pathengeschenke ließen sie sich be¬ wegen, Protestanten zu werden. Später verdienten sie sich wieder Pathengeld durch Uebertritt zur katholischen Kirche, dann nochmals, indem sie von Neuem evangelisch wurden. Sie hätten dieses Wechseln des Rockes in mtmitum fort¬ gesetzt, wenn die betreffenden wackeren Seelenhirten den Schwindel nicht zu¬ letzt gemerkt hätten. Jetzt gelten die beiden zuerst erwähnten Dörfer für ka¬ tholisch', das dritte für protestantisch. Die wittgensteinschen Zigeuner leben fast nur vom Bettel und kleinen Diebereien. Ihre Faulheit ist geradezu ungeheuer. Sie lernen nichts und verstehen nichts und hungern lieber, als daß sie sich der kleinsten Arbeit unterziehen, liegen im Sommer in der Sonne und frieren im Winter, obwohl sie den Wald, wo sie Brennholz holen könnten, vor der Thür haben. Immer wird ohne Gedanken an die Zukunft in den Tag hineingelebt. Niemals wird ein dortiger Zigeuner eine Arbeit übernehmen, für die er nicht gleich an dem¬ selben Tage den Lohn erhält; denn mit dem Morgen rechnet er nicht. „Eines Abends", so erzählt Dorn, „kommt ein alter Herr, Graf T., auf einem Spa¬ ziergange an einen angeschwollenen Bach, der für gewöhnlich mit Hülfe zweier großer Steine ohne Mühe zu überschreiten, jetzt aber durch den Regen in ein knietiefes und einige Ruthen breites Flüßchen verwandelt ist. Als er verlegen umherblickt, kommt so ein Schwarzkopf den Waldeshang herunter. „He, Andres, Du hast ja breite und starke Schultern, willst Du mich über den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/258>, abgerufen am 30.06.2024.