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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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und zerstochen werden, sie wächst von selber wieder und ohne daß es Geld
kostet." Wer Schimpf einsteckt, wird verachtet und gemieden, bis er sich noth¬
gedrungen zum Zweikampf entschließt. Grundlose Herausforderungen gebietet
der Zigeunercomment zwar ebenfalls anzunehmen, aber nach ausgefochtener
Sache kann der Herausforderer beim Hauptmann verklagt werden, der ihn mit
Ohrfeigen, Peitschenhieben, ja bei schweren Fällen mit zeitweiliger Ausstoßung
aus der Landsmannschaft bestraft.

Früher wurden nach Liebich, der es aus dem Munde von Zigeunern
selbst hat, altersschwache und lebensmüde Leute des Stammes mit ihrer Zu¬
stimmung lebendig begraben. Man machte im tiefen Walde vor ihren
Augen eine Grube, legte sie, mit ihren besten Kleidern angethan, hinein und
schüttete sie mit Erde zu, indem man dazu den Vers sang:


"Dscha tete, tscha tete,
O Polopent baro wele."

Diese Worte bedeuten: Geh hinunter, geh hinunter, die Welt wird groß,
d. h. sie wächst und mehrt sich auch ohne dich, oder so, daß für dich kein
Raum mehr ist.

Der Tod eines Zigeuners erfüllt die ganze Bande mit Trauer, und laut
erschallt die Wehklage. Nur die Wittwe schweigt. Die Leiche wird rasch der
Erde übergeben. Das Grab muß von Zigeunern gemacht werden. In den
Sarg legt man die Waffen des Todten und einen Zweig des der Landsmann¬
schaft heiligen Baumes, auch gießt man reichliche Libationen von Wein oder
Branntwein über ihn aus. Ein Hauptmann wird mit Waldhornmusik be¬
erdigt und durch Flinten- und Pistolenschüsse, die über sein Grab abgefeuert
werden, nach Kräften geehrt. Die Kleider eines verstorbenen Zigeuners, so¬
weit er sie nicht in die Erde mitbekommt, und sein Bettzeug verbrennt man
unter freiem Himmel. Ist die Asche erkaltet, so tritt einer der älteren Ver¬
wandten des Todten hinein, und je nachdem wie sich der Abdruck des Fußes
am andern Morgen gestaltet hat, schließt man, ob ein erwachsenes oder jugend¬
liches Glied der Familie dem Verstorbenen zunächst nachfolgen werde. Auf
das Grab pflanzt man, je nach der Landsmannschaft des Verblichenen, einen
Mehlbeerbaum, eine Birke oder eine Tanne, die, wenn sie nicht gedeihen,
am Jahrestage des Ablebens der betreffenden Person durch neue ersetzt werden.

Zum Schlüsse ein paar Worte über die Zigeuner, die man in der
Gegend von Berleburg angesiedelt hat.*)

Zwischen dem Ederkopfe, da wo die Lahn ihren Lauf nach Osten be¬
ginnt und Dill, Sieg und Eder von derselben Bergkuppe nach Süd, West
und Nord hinabströmen, zwischen dem Siegerland, dem preußischen Oberhessen



') Vgl. Friedrich Dorn in der Germania, Sept. 1872.
Grenzboten IV. 1872.

und zerstochen werden, sie wächst von selber wieder und ohne daß es Geld
kostet." Wer Schimpf einsteckt, wird verachtet und gemieden, bis er sich noth¬
gedrungen zum Zweikampf entschließt. Grundlose Herausforderungen gebietet
der Zigeunercomment zwar ebenfalls anzunehmen, aber nach ausgefochtener
Sache kann der Herausforderer beim Hauptmann verklagt werden, der ihn mit
Ohrfeigen, Peitschenhieben, ja bei schweren Fällen mit zeitweiliger Ausstoßung
aus der Landsmannschaft bestraft.

Früher wurden nach Liebich, der es aus dem Munde von Zigeunern
selbst hat, altersschwache und lebensmüde Leute des Stammes mit ihrer Zu¬
stimmung lebendig begraben. Man machte im tiefen Walde vor ihren
Augen eine Grube, legte sie, mit ihren besten Kleidern angethan, hinein und
schüttete sie mit Erde zu, indem man dazu den Vers sang:


„Dscha tete, tscha tete,
O Polopent baro wele."

Diese Worte bedeuten: Geh hinunter, geh hinunter, die Welt wird groß,
d. h. sie wächst und mehrt sich auch ohne dich, oder so, daß für dich kein
Raum mehr ist.

Der Tod eines Zigeuners erfüllt die ganze Bande mit Trauer, und laut
erschallt die Wehklage. Nur die Wittwe schweigt. Die Leiche wird rasch der
Erde übergeben. Das Grab muß von Zigeunern gemacht werden. In den
Sarg legt man die Waffen des Todten und einen Zweig des der Landsmann¬
schaft heiligen Baumes, auch gießt man reichliche Libationen von Wein oder
Branntwein über ihn aus. Ein Hauptmann wird mit Waldhornmusik be¬
erdigt und durch Flinten- und Pistolenschüsse, die über sein Grab abgefeuert
werden, nach Kräften geehrt. Die Kleider eines verstorbenen Zigeuners, so¬
weit er sie nicht in die Erde mitbekommt, und sein Bettzeug verbrennt man
unter freiem Himmel. Ist die Asche erkaltet, so tritt einer der älteren Ver¬
wandten des Todten hinein, und je nachdem wie sich der Abdruck des Fußes
am andern Morgen gestaltet hat, schließt man, ob ein erwachsenes oder jugend¬
liches Glied der Familie dem Verstorbenen zunächst nachfolgen werde. Auf
das Grab pflanzt man, je nach der Landsmannschaft des Verblichenen, einen
Mehlbeerbaum, eine Birke oder eine Tanne, die, wenn sie nicht gedeihen,
am Jahrestage des Ablebens der betreffenden Person durch neue ersetzt werden.

Zum Schlüsse ein paar Worte über die Zigeuner, die man in der
Gegend von Berleburg angesiedelt hat.*)

Zwischen dem Ederkopfe, da wo die Lahn ihren Lauf nach Osten be¬
ginnt und Dill, Sieg und Eder von derselben Bergkuppe nach Süd, West
und Nord hinabströmen, zwischen dem Siegerland, dem preußischen Oberhessen



') Vgl. Friedrich Dorn in der Germania, Sept. 1872.
Grenzboten IV. 1872.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/257>, abgerufen am 02.07.2024.