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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Nebenzweige sich gleichsam als Flügel ausbreiten. Oder man schichtet drei
Steine übereinander, von denen der größte die Basis bildet und der obenauf¬
liegende kleinste mit seiner Hauptecke den einzuschlagenden Weg angiebt. Wieder
ein anderes Zeichen dieser Art ist, daß man in den Sand oder Schnee drei
wagrecht parallel laufende, durch einen senkrecht gezogenen Querstrich verbun¬
dene Striche macht, deren mittelster länger als die andern ist und als An¬
deutung des von den Vorausgezogenen gewählten Wegs dient.

Liebesverhältnisse zwischen getrennt von einander wandernden Zigeunern
werden ebenfalls durch Zeichen unterhalten und getrennt. So deutet ein Ein¬
knicken an dem obenbeschriebenen mittleren Baumästchen an, daß man von
einer bisher geliebten Person nichts mehr wissen will, und daß sie nicht etwa
nachfolgen und den vergeblichen Versuch einer Aussöhnung unternehmen soll.
Hat sich ein Liebespaar entzweit, und hofft der eine oder der andere Theil
Wiederherstellung des abgebrochenen Verhältnisses, so wirft er bei dem Zu¬
sammentreffen mit dem nur Schmollenden oder ernstlich Erzürnten ein Karten¬
blatt in die Höhe. Greift dieser darnach, um es zu erHaschen, so ist Friede
geschlossen. Streckt er aber nicht einmal die Hand darnach aus, so ist an keine
Versöhnung mehr zu denken. Stumme, aber stets wohlverstandene Liebeserklä¬
rungen erfolgen von Seiten des Burschen durch Zusammenknicken des Hut¬
randes. Antwortet das Mädchen durch Zusammenrollen ihres Kopf- oder
Halstuches oder ihres Schürzenbandes, so bedeutet dies Erhörung und Gegen¬
liebe.

Schuhsohlen gelten bei den Zigeunern als verunreinigend. Im höheren
Grade aber sind dies ihnen Kleider der Frauen. Jemand mit Schuhwerk
schlagen oder werfen ist unter den Zigeunern eine besonders schwere Beleidi¬
gung. Alle Gegenstände, gleichviel wie werthvoll, welche ein Weib mit dem
Fuße berührt oder mit seinem Rocksaum auch nur leise gestreift hat, müssen
bei Seite geworfen und dürfen nie wieder in Gebrauch genommen werden.
Die größte Injurie, die ein Zigeuner dem andern zufügen kann, ist die, daß
er zu ihm sagt: "Ich stecke deinen Kopf unter das Kleid deiner Frau." Dann
giebt es sofort einen blutigen Kampf, der nicht selten bedenkliche Folgen hat.
Gerathen Zigeuner in solcher Weise ernstlich aneinander, so wird die Rauferei
in der Regel bald allgemein, Weiber und Kinder, selbst die Hunde, betheiligen
sich, packen, schlagen und kratzen einander, werfen, stechen und beißen sich und
stoßen gellendes Geschrei dazu aus.

Bisweilen findet auch eine förmliche Herausforderung zum Zwei kämpfe
statt, der dann in Gegenwart der ganzen, die Kämpfer im Kreise umstehenden
und durch Wort und Geberde anfeuernden Bande mit Faust und Fuß, manch¬
mal auch mit dem Messer ausgefochten wird. Vorher wird dabei Rock und
Hemd ausgezogen, damit sie nicht Schaden leiden; "die Haut kann zerrissen


Nebenzweige sich gleichsam als Flügel ausbreiten. Oder man schichtet drei
Steine übereinander, von denen der größte die Basis bildet und der obenauf¬
liegende kleinste mit seiner Hauptecke den einzuschlagenden Weg angiebt. Wieder
ein anderes Zeichen dieser Art ist, daß man in den Sand oder Schnee drei
wagrecht parallel laufende, durch einen senkrecht gezogenen Querstrich verbun¬
dene Striche macht, deren mittelster länger als die andern ist und als An¬
deutung des von den Vorausgezogenen gewählten Wegs dient.

Liebesverhältnisse zwischen getrennt von einander wandernden Zigeunern
werden ebenfalls durch Zeichen unterhalten und getrennt. So deutet ein Ein¬
knicken an dem obenbeschriebenen mittleren Baumästchen an, daß man von
einer bisher geliebten Person nichts mehr wissen will, und daß sie nicht etwa
nachfolgen und den vergeblichen Versuch einer Aussöhnung unternehmen soll.
Hat sich ein Liebespaar entzweit, und hofft der eine oder der andere Theil
Wiederherstellung des abgebrochenen Verhältnisses, so wirft er bei dem Zu¬
sammentreffen mit dem nur Schmollenden oder ernstlich Erzürnten ein Karten¬
blatt in die Höhe. Greift dieser darnach, um es zu erHaschen, so ist Friede
geschlossen. Streckt er aber nicht einmal die Hand darnach aus, so ist an keine
Versöhnung mehr zu denken. Stumme, aber stets wohlverstandene Liebeserklä¬
rungen erfolgen von Seiten des Burschen durch Zusammenknicken des Hut¬
randes. Antwortet das Mädchen durch Zusammenrollen ihres Kopf- oder
Halstuches oder ihres Schürzenbandes, so bedeutet dies Erhörung und Gegen¬
liebe.

Schuhsohlen gelten bei den Zigeunern als verunreinigend. Im höheren
Grade aber sind dies ihnen Kleider der Frauen. Jemand mit Schuhwerk
schlagen oder werfen ist unter den Zigeunern eine besonders schwere Beleidi¬
gung. Alle Gegenstände, gleichviel wie werthvoll, welche ein Weib mit dem
Fuße berührt oder mit seinem Rocksaum auch nur leise gestreift hat, müssen
bei Seite geworfen und dürfen nie wieder in Gebrauch genommen werden.
Die größte Injurie, die ein Zigeuner dem andern zufügen kann, ist die, daß
er zu ihm sagt: „Ich stecke deinen Kopf unter das Kleid deiner Frau." Dann
giebt es sofort einen blutigen Kampf, der nicht selten bedenkliche Folgen hat.
Gerathen Zigeuner in solcher Weise ernstlich aneinander, so wird die Rauferei
in der Regel bald allgemein, Weiber und Kinder, selbst die Hunde, betheiligen
sich, packen, schlagen und kratzen einander, werfen, stechen und beißen sich und
stoßen gellendes Geschrei dazu aus.

Bisweilen findet auch eine förmliche Herausforderung zum Zwei kämpfe
statt, der dann in Gegenwart der ganzen, die Kämpfer im Kreise umstehenden
und durch Wort und Geberde anfeuernden Bande mit Faust und Fuß, manch¬
mal auch mit dem Messer ausgefochten wird. Vorher wird dabei Rock und
Hemd ausgezogen, damit sie nicht Schaden leiden; „die Haut kann zerrissen


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[0256] Nebenzweige sich gleichsam als Flügel ausbreiten. Oder man schichtet drei Steine übereinander, von denen der größte die Basis bildet und der obenauf¬ liegende kleinste mit seiner Hauptecke den einzuschlagenden Weg angiebt. Wieder ein anderes Zeichen dieser Art ist, daß man in den Sand oder Schnee drei wagrecht parallel laufende, durch einen senkrecht gezogenen Querstrich verbun¬ dene Striche macht, deren mittelster länger als die andern ist und als An¬ deutung des von den Vorausgezogenen gewählten Wegs dient. Liebesverhältnisse zwischen getrennt von einander wandernden Zigeunern werden ebenfalls durch Zeichen unterhalten und getrennt. So deutet ein Ein¬ knicken an dem obenbeschriebenen mittleren Baumästchen an, daß man von einer bisher geliebten Person nichts mehr wissen will, und daß sie nicht etwa nachfolgen und den vergeblichen Versuch einer Aussöhnung unternehmen soll. Hat sich ein Liebespaar entzweit, und hofft der eine oder der andere Theil Wiederherstellung des abgebrochenen Verhältnisses, so wirft er bei dem Zu¬ sammentreffen mit dem nur Schmollenden oder ernstlich Erzürnten ein Karten¬ blatt in die Höhe. Greift dieser darnach, um es zu erHaschen, so ist Friede geschlossen. Streckt er aber nicht einmal die Hand darnach aus, so ist an keine Versöhnung mehr zu denken. Stumme, aber stets wohlverstandene Liebeserklä¬ rungen erfolgen von Seiten des Burschen durch Zusammenknicken des Hut¬ randes. Antwortet das Mädchen durch Zusammenrollen ihres Kopf- oder Halstuches oder ihres Schürzenbandes, so bedeutet dies Erhörung und Gegen¬ liebe. Schuhsohlen gelten bei den Zigeunern als verunreinigend. Im höheren Grade aber sind dies ihnen Kleider der Frauen. Jemand mit Schuhwerk schlagen oder werfen ist unter den Zigeunern eine besonders schwere Beleidi¬ gung. Alle Gegenstände, gleichviel wie werthvoll, welche ein Weib mit dem Fuße berührt oder mit seinem Rocksaum auch nur leise gestreift hat, müssen bei Seite geworfen und dürfen nie wieder in Gebrauch genommen werden. Die größte Injurie, die ein Zigeuner dem andern zufügen kann, ist die, daß er zu ihm sagt: „Ich stecke deinen Kopf unter das Kleid deiner Frau." Dann giebt es sofort einen blutigen Kampf, der nicht selten bedenkliche Folgen hat. Gerathen Zigeuner in solcher Weise ernstlich aneinander, so wird die Rauferei in der Regel bald allgemein, Weiber und Kinder, selbst die Hunde, betheiligen sich, packen, schlagen und kratzen einander, werfen, stechen und beißen sich und stoßen gellendes Geschrei dazu aus. Bisweilen findet auch eine förmliche Herausforderung zum Zwei kämpfe statt, der dann in Gegenwart der ganzen, die Kämpfer im Kreise umstehenden und durch Wort und Geberde anfeuernden Bande mit Faust und Fuß, manch¬ mal auch mit dem Messer ausgefochten wird. Vorher wird dabei Rock und Hemd ausgezogen, damit sie nicht Schaden leiden; „die Haut kann zerrissen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/256>, abgerufen am 04.07.2024.