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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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zum Vater der Braut zurück. Der Bräutigam wirft sich vor diesem auf die
Knie und bittet um Verzeihung, worauf ihm der Vater gewöhnlich etliche
Ohrseigen verabfolgt, dann aber sich erweichen läßt und dem künftigen
Schwiegersohn gestattet, zwei Jahre bei seiner Bande zu verweilen, eine
Periode, die als Prüfungszeit gilt, und während welcher er dem Vater Ge¬
horsam zu leisten und jeden Erwerb an diesen abzuliefern hat. Ist diese Zeit
vorüber, so wird der Hauptmann angegangen, die jungen Leute ehrlich zusam¬
menzugeben. Derselbe untersucht, ob der Bräutigam "Dadeskero Wahl",
väterliche Hand, hat, d. h. aus reinem Zigeunerblut entsprossen ist, und ob
nicht etwas gegen ihn vorliegt, was die Ausschließung aus der Gemeinde zur
Folge hat. Findet er, daß Alles in der Ordnung ist, so vollzieht er die
Trauung. Der Vater wird von ihm aufgefordert, feierlich seine Einwilligung
zu geben. Die Brautleute knieen vor dem Hauptmann nieder, geloben sich
Liebe und Treue, wechseln auch wohl die Ringe, falls sie solche haben, und
werden dann von jenem zu Eheleuten geweiht, indem er aus einem mit Blumen
umwundenen, mit Wein gefüllten irdenen Kruge einige Tropfen auf ihre Köpfe
gießt, den Krug auf ihre Gesundheit leert und das Gefäß dann hoch in die
Luft wirft, damit er beim Niederfallen zerbreche. Je mehr Scherben, desto
mehr Glück für das neue Ehepaar. Ist die Witterung günstig, so findet die
Ceremonie unter freiem Himmel statt, wo dann der Hauptmann auf einer
Rasenbank sitzt, die mit einer Laube geflochten aus Zweigen von dem der
Landsmannschaft heiligen Baume überdacht ist. Den Beschluß der Feier bildet
ein Tanz, den der Hauptmann mit seiner Frau eröffnet, und ein gewaltiges
Zechgelage auf dessen Kosten. Wenn irgend möglich, werden die Hochzeiten
am Pfingstsonntage, zigeunerisch "Pattersiakro Dioch", d. i. der Laub- oder
Blättertag, gehalten. Nahe Verwandte, sogar Geschwister zu heirathen, ist
erlaubt, doch kommt es nach Liebich in unserer Zeit nicht mehr vor, daß eine
Schwester die Gattin ihres Bruders wird.

Die Ehen der Zigeuner sind leicht lösbar. Ohne Weiteres verstößt der
Mann die Frau, wenn sie seinen Erwartungen irgendwie nicht entspricht, und
selten findet sie dann beim Hauptmann Hülfe. Ehebruch dagegen kommt fast
nie vor und wird, wenn der Fall dem Hauptmann geklagt wird, grausam
bestraft. Die Frau bekommt dann einen Schnitt über die Nase, und ihr Ver¬
führer muß sich aus einer Anzahl Gewehre eins aussuchen, mit dem ihm der
Hauptmann alsdann das Arm- oder Kniegelenk entzweischießt. Beide Theile
trifft außerdem Ausschließung aus allem Verkehr mit unbescholtenen Zigeunern
für einige Zeit, während welcher ihnen verboten ist, grüne Farben zu tragen.

Die Zigeuner in Deutschland führen gewöhnlich zwei Namen: einen
deutschklingenden, der dazu bestimmt ist. in öffentlichen Urkunden, Reisepässen,
Gewerbescheinen u. tgi. zu figuriren, und einen andern, der -im Verkehr mit


zum Vater der Braut zurück. Der Bräutigam wirft sich vor diesem auf die
Knie und bittet um Verzeihung, worauf ihm der Vater gewöhnlich etliche
Ohrseigen verabfolgt, dann aber sich erweichen läßt und dem künftigen
Schwiegersohn gestattet, zwei Jahre bei seiner Bande zu verweilen, eine
Periode, die als Prüfungszeit gilt, und während welcher er dem Vater Ge¬
horsam zu leisten und jeden Erwerb an diesen abzuliefern hat. Ist diese Zeit
vorüber, so wird der Hauptmann angegangen, die jungen Leute ehrlich zusam¬
menzugeben. Derselbe untersucht, ob der Bräutigam „Dadeskero Wahl",
väterliche Hand, hat, d. h. aus reinem Zigeunerblut entsprossen ist, und ob
nicht etwas gegen ihn vorliegt, was die Ausschließung aus der Gemeinde zur
Folge hat. Findet er, daß Alles in der Ordnung ist, so vollzieht er die
Trauung. Der Vater wird von ihm aufgefordert, feierlich seine Einwilligung
zu geben. Die Brautleute knieen vor dem Hauptmann nieder, geloben sich
Liebe und Treue, wechseln auch wohl die Ringe, falls sie solche haben, und
werden dann von jenem zu Eheleuten geweiht, indem er aus einem mit Blumen
umwundenen, mit Wein gefüllten irdenen Kruge einige Tropfen auf ihre Köpfe
gießt, den Krug auf ihre Gesundheit leert und das Gefäß dann hoch in die
Luft wirft, damit er beim Niederfallen zerbreche. Je mehr Scherben, desto
mehr Glück für das neue Ehepaar. Ist die Witterung günstig, so findet die
Ceremonie unter freiem Himmel statt, wo dann der Hauptmann auf einer
Rasenbank sitzt, die mit einer Laube geflochten aus Zweigen von dem der
Landsmannschaft heiligen Baume überdacht ist. Den Beschluß der Feier bildet
ein Tanz, den der Hauptmann mit seiner Frau eröffnet, und ein gewaltiges
Zechgelage auf dessen Kosten. Wenn irgend möglich, werden die Hochzeiten
am Pfingstsonntage, zigeunerisch „Pattersiakro Dioch", d. i. der Laub- oder
Blättertag, gehalten. Nahe Verwandte, sogar Geschwister zu heirathen, ist
erlaubt, doch kommt es nach Liebich in unserer Zeit nicht mehr vor, daß eine
Schwester die Gattin ihres Bruders wird.

Die Ehen der Zigeuner sind leicht lösbar. Ohne Weiteres verstößt der
Mann die Frau, wenn sie seinen Erwartungen irgendwie nicht entspricht, und
selten findet sie dann beim Hauptmann Hülfe. Ehebruch dagegen kommt fast
nie vor und wird, wenn der Fall dem Hauptmann geklagt wird, grausam
bestraft. Die Frau bekommt dann einen Schnitt über die Nase, und ihr Ver¬
führer muß sich aus einer Anzahl Gewehre eins aussuchen, mit dem ihm der
Hauptmann alsdann das Arm- oder Kniegelenk entzweischießt. Beide Theile
trifft außerdem Ausschließung aus allem Verkehr mit unbescholtenen Zigeunern
für einige Zeit, während welcher ihnen verboten ist, grüne Farben zu tragen.

Die Zigeuner in Deutschland führen gewöhnlich zwei Namen: einen
deutschklingenden, der dazu bestimmt ist. in öffentlichen Urkunden, Reisepässen,
Gewerbescheinen u. tgi. zu figuriren, und einen andern, der -im Verkehr mit


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[0254] zum Vater der Braut zurück. Der Bräutigam wirft sich vor diesem auf die Knie und bittet um Verzeihung, worauf ihm der Vater gewöhnlich etliche Ohrseigen verabfolgt, dann aber sich erweichen läßt und dem künftigen Schwiegersohn gestattet, zwei Jahre bei seiner Bande zu verweilen, eine Periode, die als Prüfungszeit gilt, und während welcher er dem Vater Ge¬ horsam zu leisten und jeden Erwerb an diesen abzuliefern hat. Ist diese Zeit vorüber, so wird der Hauptmann angegangen, die jungen Leute ehrlich zusam¬ menzugeben. Derselbe untersucht, ob der Bräutigam „Dadeskero Wahl", väterliche Hand, hat, d. h. aus reinem Zigeunerblut entsprossen ist, und ob nicht etwas gegen ihn vorliegt, was die Ausschließung aus der Gemeinde zur Folge hat. Findet er, daß Alles in der Ordnung ist, so vollzieht er die Trauung. Der Vater wird von ihm aufgefordert, feierlich seine Einwilligung zu geben. Die Brautleute knieen vor dem Hauptmann nieder, geloben sich Liebe und Treue, wechseln auch wohl die Ringe, falls sie solche haben, und werden dann von jenem zu Eheleuten geweiht, indem er aus einem mit Blumen umwundenen, mit Wein gefüllten irdenen Kruge einige Tropfen auf ihre Köpfe gießt, den Krug auf ihre Gesundheit leert und das Gefäß dann hoch in die Luft wirft, damit er beim Niederfallen zerbreche. Je mehr Scherben, desto mehr Glück für das neue Ehepaar. Ist die Witterung günstig, so findet die Ceremonie unter freiem Himmel statt, wo dann der Hauptmann auf einer Rasenbank sitzt, die mit einer Laube geflochten aus Zweigen von dem der Landsmannschaft heiligen Baume überdacht ist. Den Beschluß der Feier bildet ein Tanz, den der Hauptmann mit seiner Frau eröffnet, und ein gewaltiges Zechgelage auf dessen Kosten. Wenn irgend möglich, werden die Hochzeiten am Pfingstsonntage, zigeunerisch „Pattersiakro Dioch", d. i. der Laub- oder Blättertag, gehalten. Nahe Verwandte, sogar Geschwister zu heirathen, ist erlaubt, doch kommt es nach Liebich in unserer Zeit nicht mehr vor, daß eine Schwester die Gattin ihres Bruders wird. Die Ehen der Zigeuner sind leicht lösbar. Ohne Weiteres verstößt der Mann die Frau, wenn sie seinen Erwartungen irgendwie nicht entspricht, und selten findet sie dann beim Hauptmann Hülfe. Ehebruch dagegen kommt fast nie vor und wird, wenn der Fall dem Hauptmann geklagt wird, grausam bestraft. Die Frau bekommt dann einen Schnitt über die Nase, und ihr Ver¬ führer muß sich aus einer Anzahl Gewehre eins aussuchen, mit dem ihm der Hauptmann alsdann das Arm- oder Kniegelenk entzweischießt. Beide Theile trifft außerdem Ausschließung aus allem Verkehr mit unbescholtenen Zigeunern für einige Zeit, während welcher ihnen verboten ist, grüne Farben zu tragen. Die Zigeuner in Deutschland führen gewöhnlich zwei Namen: einen deutschklingenden, der dazu bestimmt ist. in öffentlichen Urkunden, Reisepässen, Gewerbescheinen u. tgi. zu figuriren, und einen andern, der -im Verkehr mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/254>, abgerufen am 04.07.2024.