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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Sobald der Name des neuen Oberhauptes ausgerufen worden ist, wird
mit Trompeten ein Signal gegeben und dann überreicht man dem Erwählten
zwei übers Kreuz gelegte Zweige von den der Landsmannschaft heiligen
Bäumen, einen mit Blumen geschmückten Teller, auf dem ein Krug mit Wein
steht, und den Dreispitz mit der silbernen Quaste sowie das Zigeunersiegel.
Er setzt den Hut auf, trinkt den Krug ohne abzusetzen aus, und hält dann,
nachdem er letzteren zertrümmert, eine Rede an sein Volk, in welcher er die
Zigeunerbräuche, wie sie überliefert sind, gebührend zu beobachten und die
Gesetze gehörig zu handhaben verspricht, und nach welcher ihm die Versam¬
melten durch Handschlag Treue und Gehorsam angeloben. Ein Gelage mit
Tanz, rauschender Musik, Gesang und Schießen aus Flinten und Pistolen
beschließt die feierliche Handlung. Jeder neuerwählte Hauptmann hat die
Verpflichtung, einen Baum der von seiner Landsmannschaft verehrten Gattung
zu pflanzen und für dessen Erhaltung Sorge zu tragen.

In engeren Kreisen regieren die Familienväter. Ihnen haben nicht blos
die Kinder und Enkel, sondern auch die Familien verstorbener Brüder unbe¬
dingt Gehorsam zu leisten. Sie sind bei Eheschließungen um ihre Ein¬
willigung zu bitten, sie bestimmen die Erwerbsart, der sich die Glieder der
Familie zu widmen, und die Richtung, welche sie bei ihrer Wanderung zu
nehmen haben. Sie führen auch die gemeinschaftliche Kasse, in welche der
Verdienst und Gewinn abgeliefert werden muß. Eine sehr wichtige Rolle
neben ihnen spielt die "Großmutter", das älteste Weib der Bande. Ohne
ihre Zustimmung wird nicht leicht etwas unternommen. Ihr Wort, verständig
oder unverständig, gilt wie die Stimme der Weisheit selbst. Selbst ihr
Schweigen, wenn ein Plan besprochen wird, findet Beachtung und wird als
Verwerfung der in Rede stehenden Sache angesehen.

Liebe zu unbeschränkter Freiheit und stetemWechsel treibt den Zigeuner
von Ort zu Ort und von Land zu Land. Nur in seltenen Fällen hat er
oder sucht er eine bleibende Heimath. Darum findet sich in seiner Sprache auch
kein Wort für den Begriff wohnen. Selbst die kürzeste Gefangenschaft ist ihm
unerträglich, und um der Einsperrung zu entgehen, bricht er zu jeder Stunde
der Nacht auf, mag das Wetter noch so grausam und seine Kleidung noch so
dürftig sein. Der "arme Mann", Tschorela Rom, wie der Zigeuner sich
gern bezeichnet, zieht stets ein Nachtquartier, wo Wiesengras oder Waldmoos
sein Unterbett und der dunkle Himmel sein Dach ist, dem Ausenthalt im ver¬
schlossenen Zimmer vor.

Die Zigeuner heirathen sehr jung. Lieben sich ein Bursch und ein
Mädchen und haben sie Grund zu befürchten, daß einer der beiden Vater nicht
gleich in ihre Verheirathung willigen werde, so entfliehen sie miteinander und
schließen sich einer andern Bande an, kehren aber nach Verlauf einiger Wochen


Sobald der Name des neuen Oberhauptes ausgerufen worden ist, wird
mit Trompeten ein Signal gegeben und dann überreicht man dem Erwählten
zwei übers Kreuz gelegte Zweige von den der Landsmannschaft heiligen
Bäumen, einen mit Blumen geschmückten Teller, auf dem ein Krug mit Wein
steht, und den Dreispitz mit der silbernen Quaste sowie das Zigeunersiegel.
Er setzt den Hut auf, trinkt den Krug ohne abzusetzen aus, und hält dann,
nachdem er letzteren zertrümmert, eine Rede an sein Volk, in welcher er die
Zigeunerbräuche, wie sie überliefert sind, gebührend zu beobachten und die
Gesetze gehörig zu handhaben verspricht, und nach welcher ihm die Versam¬
melten durch Handschlag Treue und Gehorsam angeloben. Ein Gelage mit
Tanz, rauschender Musik, Gesang und Schießen aus Flinten und Pistolen
beschließt die feierliche Handlung. Jeder neuerwählte Hauptmann hat die
Verpflichtung, einen Baum der von seiner Landsmannschaft verehrten Gattung
zu pflanzen und für dessen Erhaltung Sorge zu tragen.

In engeren Kreisen regieren die Familienväter. Ihnen haben nicht blos
die Kinder und Enkel, sondern auch die Familien verstorbener Brüder unbe¬
dingt Gehorsam zu leisten. Sie sind bei Eheschließungen um ihre Ein¬
willigung zu bitten, sie bestimmen die Erwerbsart, der sich die Glieder der
Familie zu widmen, und die Richtung, welche sie bei ihrer Wanderung zu
nehmen haben. Sie führen auch die gemeinschaftliche Kasse, in welche der
Verdienst und Gewinn abgeliefert werden muß. Eine sehr wichtige Rolle
neben ihnen spielt die „Großmutter", das älteste Weib der Bande. Ohne
ihre Zustimmung wird nicht leicht etwas unternommen. Ihr Wort, verständig
oder unverständig, gilt wie die Stimme der Weisheit selbst. Selbst ihr
Schweigen, wenn ein Plan besprochen wird, findet Beachtung und wird als
Verwerfung der in Rede stehenden Sache angesehen.

Liebe zu unbeschränkter Freiheit und stetemWechsel treibt den Zigeuner
von Ort zu Ort und von Land zu Land. Nur in seltenen Fällen hat er
oder sucht er eine bleibende Heimath. Darum findet sich in seiner Sprache auch
kein Wort für den Begriff wohnen. Selbst die kürzeste Gefangenschaft ist ihm
unerträglich, und um der Einsperrung zu entgehen, bricht er zu jeder Stunde
der Nacht auf, mag das Wetter noch so grausam und seine Kleidung noch so
dürftig sein. Der „arme Mann", Tschorela Rom, wie der Zigeuner sich
gern bezeichnet, zieht stets ein Nachtquartier, wo Wiesengras oder Waldmoos
sein Unterbett und der dunkle Himmel sein Dach ist, dem Ausenthalt im ver¬
schlossenen Zimmer vor.

Die Zigeuner heirathen sehr jung. Lieben sich ein Bursch und ein
Mädchen und haben sie Grund zu befürchten, daß einer der beiden Vater nicht
gleich in ihre Verheirathung willigen werde, so entfliehen sie miteinander und
schließen sich einer andern Bande an, kehren aber nach Verlauf einiger Wochen


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[0253] Sobald der Name des neuen Oberhauptes ausgerufen worden ist, wird mit Trompeten ein Signal gegeben und dann überreicht man dem Erwählten zwei übers Kreuz gelegte Zweige von den der Landsmannschaft heiligen Bäumen, einen mit Blumen geschmückten Teller, auf dem ein Krug mit Wein steht, und den Dreispitz mit der silbernen Quaste sowie das Zigeunersiegel. Er setzt den Hut auf, trinkt den Krug ohne abzusetzen aus, und hält dann, nachdem er letzteren zertrümmert, eine Rede an sein Volk, in welcher er die Zigeunerbräuche, wie sie überliefert sind, gebührend zu beobachten und die Gesetze gehörig zu handhaben verspricht, und nach welcher ihm die Versam¬ melten durch Handschlag Treue und Gehorsam angeloben. Ein Gelage mit Tanz, rauschender Musik, Gesang und Schießen aus Flinten und Pistolen beschließt die feierliche Handlung. Jeder neuerwählte Hauptmann hat die Verpflichtung, einen Baum der von seiner Landsmannschaft verehrten Gattung zu pflanzen und für dessen Erhaltung Sorge zu tragen. In engeren Kreisen regieren die Familienväter. Ihnen haben nicht blos die Kinder und Enkel, sondern auch die Familien verstorbener Brüder unbe¬ dingt Gehorsam zu leisten. Sie sind bei Eheschließungen um ihre Ein¬ willigung zu bitten, sie bestimmen die Erwerbsart, der sich die Glieder der Familie zu widmen, und die Richtung, welche sie bei ihrer Wanderung zu nehmen haben. Sie führen auch die gemeinschaftliche Kasse, in welche der Verdienst und Gewinn abgeliefert werden muß. Eine sehr wichtige Rolle neben ihnen spielt die „Großmutter", das älteste Weib der Bande. Ohne ihre Zustimmung wird nicht leicht etwas unternommen. Ihr Wort, verständig oder unverständig, gilt wie die Stimme der Weisheit selbst. Selbst ihr Schweigen, wenn ein Plan besprochen wird, findet Beachtung und wird als Verwerfung der in Rede stehenden Sache angesehen. Liebe zu unbeschränkter Freiheit und stetemWechsel treibt den Zigeuner von Ort zu Ort und von Land zu Land. Nur in seltenen Fällen hat er oder sucht er eine bleibende Heimath. Darum findet sich in seiner Sprache auch kein Wort für den Begriff wohnen. Selbst die kürzeste Gefangenschaft ist ihm unerträglich, und um der Einsperrung zu entgehen, bricht er zu jeder Stunde der Nacht auf, mag das Wetter noch so grausam und seine Kleidung noch so dürftig sein. Der „arme Mann", Tschorela Rom, wie der Zigeuner sich gern bezeichnet, zieht stets ein Nachtquartier, wo Wiesengras oder Waldmoos sein Unterbett und der dunkle Himmel sein Dach ist, dem Ausenthalt im ver¬ schlossenen Zimmer vor. Die Zigeuner heirathen sehr jung. Lieben sich ein Bursch und ein Mädchen und haben sie Grund zu befürchten, daß einer der beiden Vater nicht gleich in ihre Verheirathung willigen werde, so entfliehen sie miteinander und schließen sich einer andern Bande an, kehren aber nach Verlauf einiger Wochen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/253>, abgerufen am 04.07.2024.