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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Soldaten, Deserteure eines Linienregiments, wurden mit verkehrt angezogenen
Waffenröcken und einem Plakate auf der Brust durch die Straßen geschleppt
und dann erschossen,*) In diesen Tagen erhitzte sich der "Patriotismus"
derart, daß man beschloß, durch Nationalsubscription eine Ehrenmuskete für
denjenigen aufzubringen, der den König von Preußen erschießen werde. 2000
Subscribenten, jeder mit einem Sou, unterschrieben sich sofort.**)

Der Verlust des Plateaus von Chü-tillon warf die Besatzung von Paris
in die strengste Defensive zurück. Die hierauf folgenden sechs Wochen mußten
dazu benutzt werden, die Mobilgarden auszubilden, um sie mit der aktiven
Armee zu Ausfällen verwenden zu können, sowie die Nationalgarten (260
Bataillone) regelmäßig zu formiren. Während dieser gebotenen sechswöchent¬
lichen Unthätigkeit der Besätzungs-Armee von Paris nach außerhalb vollendete
der Feind seine Umschließungslinien, die bei späteren Ausfällen nicht mehr zu
durchdringen waren. Es muß anerkannt werden, daß Trochu jene Zeit, so¬
weit es die Befestigung der Enceinte betraf, vortrefflich benutzt hat, obgleich
die ganze Arbeit auf seinen Schultern lastete. Weniger erfolgreich waren seine An¬
strengungen, die Mobilgarden zu kriegstüchtigen Truppen zu machen. Dem
Gouverneur zur Seite standen mehre Commissionen, welche sich mit dem
Studium und der Anwendung der Vertheidigungsmittel beschäftigten.***)

Trochu rechnet es sich als Verdienst an, daß er in Paris allem Drängen
nach Massenausfällen mit improvisirten Truppen, die nur schwere Opfer ohne
reellen Erfolg gehabt haben würden, so viel als möglich widerstanden habe.
Sein (von Duerot herrührender) Plan war der, in der Richtung auf Rouen
nach Havre durchzubrechen. Von der Halbinsel Gennevilliers aus glaubte er
am leichtesten über Argenteuil und Corneilles die feindlichen Linien sprengen
zu können. Die bei Lille organisirte Nordarmee sollte hierbei die rechte Flanke der
Ausfalls-Armee decken, welche in Eilmärschen über Rouen bis Havre vor¬
dringen sollte, um sich am Meer mit allen Hülfsquellen des Landes in Ver¬
bindung zu setzen.





") C. Adami a. a. O.
") Henry Labouchere- Aus dem Tagebuchs eines Belagerten, Leipzig, 1871.
"*) Diese Commissionen waren 1) Oommission Sss ötuSes, welche mehr als 120 neue
Erfindungen geprüft und zum Theil zur Anwendung gebracht hat, 2) die Bewaffnungscommis-
fion, von der eine Section zu Tours saß und der 15 große Werkstätten in Paris unentgeldlich
zur Verfügung standen, in denen täglich mehr a?s 80" Gewehre hergestellt wurden, 3) die
Vommision an görlis olons, welche schon bis Ende Oktober mehr als 200 Mitrailleusen und
300 schwere Geschütze lieferte, ganz abgesehen von großen Lieferungen an Walllasseten und
Munition, endlich 4) die Barrikaden-Commission, welche eine dritte Umfassung innerhalb der
Stadt herstellte. Ihr Chef war Rochefort. "Welche Ironie der Ereignisse. Die regierende
Gewalt hatte selbst eine Barrikaden-Commission geschaffen und Nochefort zu deren Chef er¬
nannt! Wie recht hatte doch Talleyrand, als er behauptete, daß in Frankreich Alles möglich
sei!" (Sarcey a. a. O.)
Grcirzboten IV. 1872. 23

Soldaten, Deserteure eines Linienregiments, wurden mit verkehrt angezogenen
Waffenröcken und einem Plakate auf der Brust durch die Straßen geschleppt
und dann erschossen,*) In diesen Tagen erhitzte sich der „Patriotismus"
derart, daß man beschloß, durch Nationalsubscription eine Ehrenmuskete für
denjenigen aufzubringen, der den König von Preußen erschießen werde. 2000
Subscribenten, jeder mit einem Sou, unterschrieben sich sofort.**)

Der Verlust des Plateaus von Chü-tillon warf die Besatzung von Paris
in die strengste Defensive zurück. Die hierauf folgenden sechs Wochen mußten
dazu benutzt werden, die Mobilgarden auszubilden, um sie mit der aktiven
Armee zu Ausfällen verwenden zu können, sowie die Nationalgarten (260
Bataillone) regelmäßig zu formiren. Während dieser gebotenen sechswöchent¬
lichen Unthätigkeit der Besätzungs-Armee von Paris nach außerhalb vollendete
der Feind seine Umschließungslinien, die bei späteren Ausfällen nicht mehr zu
durchdringen waren. Es muß anerkannt werden, daß Trochu jene Zeit, so¬
weit es die Befestigung der Enceinte betraf, vortrefflich benutzt hat, obgleich
die ganze Arbeit auf seinen Schultern lastete. Weniger erfolgreich waren seine An¬
strengungen, die Mobilgarden zu kriegstüchtigen Truppen zu machen. Dem
Gouverneur zur Seite standen mehre Commissionen, welche sich mit dem
Studium und der Anwendung der Vertheidigungsmittel beschäftigten.***)

Trochu rechnet es sich als Verdienst an, daß er in Paris allem Drängen
nach Massenausfällen mit improvisirten Truppen, die nur schwere Opfer ohne
reellen Erfolg gehabt haben würden, so viel als möglich widerstanden habe.
Sein (von Duerot herrührender) Plan war der, in der Richtung auf Rouen
nach Havre durchzubrechen. Von der Halbinsel Gennevilliers aus glaubte er
am leichtesten über Argenteuil und Corneilles die feindlichen Linien sprengen
zu können. Die bei Lille organisirte Nordarmee sollte hierbei die rechte Flanke der
Ausfalls-Armee decken, welche in Eilmärschen über Rouen bis Havre vor¬
dringen sollte, um sich am Meer mit allen Hülfsquellen des Landes in Ver¬
bindung zu setzen.





") C. Adami a. a. O.
") Henry Labouchere- Aus dem Tagebuchs eines Belagerten, Leipzig, 1871.
"*) Diese Commissionen waren 1) Oommission Sss ötuSes, welche mehr als 120 neue
Erfindungen geprüft und zum Theil zur Anwendung gebracht hat, 2) die Bewaffnungscommis-
fion, von der eine Section zu Tours saß und der 15 große Werkstätten in Paris unentgeldlich
zur Verfügung standen, in denen täglich mehr a?s 80» Gewehre hergestellt wurden, 3) die
Vommision an görlis olons, welche schon bis Ende Oktober mehr als 200 Mitrailleusen und
300 schwere Geschütze lieferte, ganz abgesehen von großen Lieferungen an Walllasseten und
Munition, endlich 4) die Barrikaden-Commission, welche eine dritte Umfassung innerhalb der
Stadt herstellte. Ihr Chef war Rochefort. „Welche Ironie der Ereignisse. Die regierende
Gewalt hatte selbst eine Barrikaden-Commission geschaffen und Nochefort zu deren Chef er¬
nannt! Wie recht hatte doch Talleyrand, als er behauptete, daß in Frankreich Alles möglich
sei!" (Sarcey a. a. O.)
Grcirzboten IV. 1872. 23
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/225>, abgerufen am 22.07.2024.