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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Vertheidiger zu legitimiren. -- Was die Haltung der Nationalgarde betrifft,
so machte sich auch in ihr jener Hang zu selbstständiger Opposition geltend,
der alle Augenblicke in Unbotmäßigkeit umschlägt, und gab nicht selten An¬
laß zu ernsteren Besorgnissen. Allgemeine Unordnung herrschte namentlich
in den Reihen der "neuen Bataillone" und gleich anfangs ließen sie sich ihren
Vorgesetzten gegenüber zu einer Sprache hinreißen, die eine traurige Zukunft
in Aussicht stellte.

Die widerharige Nationalgarde discutirte die Befehle, schmollte mit ihren
Führern, die sie sich doch selbst gewählt hatte und wenn ihr ein Auftrag un¬
nütz oder verdrießlich erschien, so scheute sie sich nicht, Alles zum Teufel zu
wünschen.*)

Das allgemeine Aufgebot der Nationalgarde hatte unter anderen Uebel¬
ständen eine sehr traurige Seite. Zur Herstellung der vielerlei Vertheidigung^-,
Ausrüstungs- und Bekleidungsgegenstände brauchte man ungemein viele Arme.
Aber namentlich in der ersten Zeit war es kaum möglich, sie zu finden, weil
alle Welt Soldat spielte. Nichts erschien dem Handwerker und Arbeiter wür¬
diger, als ein Flingot über die Schulter zu hängen und auf den Wällen
Schildwacht zu stehn. Mit Verachtung blickten die Helden auf die Arbeiter
hinab, welche in der Werkstatt geblieben waren und behandelten sie fast wie
Feiglinge -- als wenn ein übermenschlicher Muth dazu gehörte, auf einer
Platform, 6000 Meter vom Feinde, spazieren zu gehen. Statt zu arbeiten
fand man es viel unterhaltender, sich unter dem Vorwande: man müsse erer-
ciren oder Wache stehn, zu versammeln, und die Zeit bei Spielen, Lachen und
ganz besonders beim Trinken zu verbringen.

Die Nationalgardisten erhielten einen Tages so it von 1^ Franken,
welchen die meisten Männer vertrauten, so daß später noch 7S C. für die
Frauen und 25 für jedes Kind zugelegt werden mußten. Der Finanzminister
Picard hatte sich der Besoldung der Nationalgarde im Staatsrathe widersetzt,
weil sie dem Schatze eine Tagesausgabe von 800 Tausend bis zu 1 Million
Franken verursache. Jules Favre aber kannte seine Leute. "Ohne den Sold",
erklärt er selbst^*), "wäre Bewaffnung und Einübung der Nationalgarde und
damit die Vertheidigung von Paris unmöglich gewesen." Gegen Bezahlung
aber wollte das Proletariat Hobel und Hammer sehr gern mit der Flinte
vertauschen. Die berühmten Nationalwerkstätten von 1848 (vergl. III. Quartal
S. 503) kehrten in anderer Form wieder. Hier lag der Samen des Kommune¬
aufstandes. Einmal bewaffnet, begannen die "Miserables" Victor Hugo's sich zu
fühlen, und vor Allem auffallend war der Eifer, mit welchem die der "Interna¬
tionale" ergebenen Bataillone sich mit Chassevots und Patronen versahen. Das




I. Favre a. a. O.
") Scmey a. a. O.

Vertheidiger zu legitimiren. — Was die Haltung der Nationalgarde betrifft,
so machte sich auch in ihr jener Hang zu selbstständiger Opposition geltend,
der alle Augenblicke in Unbotmäßigkeit umschlägt, und gab nicht selten An¬
laß zu ernsteren Besorgnissen. Allgemeine Unordnung herrschte namentlich
in den Reihen der „neuen Bataillone" und gleich anfangs ließen sie sich ihren
Vorgesetzten gegenüber zu einer Sprache hinreißen, die eine traurige Zukunft
in Aussicht stellte.

Die widerharige Nationalgarde discutirte die Befehle, schmollte mit ihren
Führern, die sie sich doch selbst gewählt hatte und wenn ihr ein Auftrag un¬
nütz oder verdrießlich erschien, so scheute sie sich nicht, Alles zum Teufel zu
wünschen.*)

Das allgemeine Aufgebot der Nationalgarde hatte unter anderen Uebel¬
ständen eine sehr traurige Seite. Zur Herstellung der vielerlei Vertheidigung^-,
Ausrüstungs- und Bekleidungsgegenstände brauchte man ungemein viele Arme.
Aber namentlich in der ersten Zeit war es kaum möglich, sie zu finden, weil
alle Welt Soldat spielte. Nichts erschien dem Handwerker und Arbeiter wür¬
diger, als ein Flingot über die Schulter zu hängen und auf den Wällen
Schildwacht zu stehn. Mit Verachtung blickten die Helden auf die Arbeiter
hinab, welche in der Werkstatt geblieben waren und behandelten sie fast wie
Feiglinge — als wenn ein übermenschlicher Muth dazu gehörte, auf einer
Platform, 6000 Meter vom Feinde, spazieren zu gehen. Statt zu arbeiten
fand man es viel unterhaltender, sich unter dem Vorwande: man müsse erer-
ciren oder Wache stehn, zu versammeln, und die Zeit bei Spielen, Lachen und
ganz besonders beim Trinken zu verbringen.

Die Nationalgardisten erhielten einen Tages so it von 1^ Franken,
welchen die meisten Männer vertrauten, so daß später noch 7S C. für die
Frauen und 25 für jedes Kind zugelegt werden mußten. Der Finanzminister
Picard hatte sich der Besoldung der Nationalgarde im Staatsrathe widersetzt,
weil sie dem Schatze eine Tagesausgabe von 800 Tausend bis zu 1 Million
Franken verursache. Jules Favre aber kannte seine Leute. „Ohne den Sold",
erklärt er selbst^*), „wäre Bewaffnung und Einübung der Nationalgarde und
damit die Vertheidigung von Paris unmöglich gewesen." Gegen Bezahlung
aber wollte das Proletariat Hobel und Hammer sehr gern mit der Flinte
vertauschen. Die berühmten Nationalwerkstätten von 1848 (vergl. III. Quartal
S. 503) kehrten in anderer Form wieder. Hier lag der Samen des Kommune¬
aufstandes. Einmal bewaffnet, begannen die „Miserables" Victor Hugo's sich zu
fühlen, und vor Allem auffallend war der Eifer, mit welchem die der „Interna¬
tionale" ergebenen Bataillone sich mit Chassevots und Patronen versahen. Das




I. Favre a. a. O.
") Scmey a. a. O.
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[0223] Vertheidiger zu legitimiren. — Was die Haltung der Nationalgarde betrifft, so machte sich auch in ihr jener Hang zu selbstständiger Opposition geltend, der alle Augenblicke in Unbotmäßigkeit umschlägt, und gab nicht selten An¬ laß zu ernsteren Besorgnissen. Allgemeine Unordnung herrschte namentlich in den Reihen der „neuen Bataillone" und gleich anfangs ließen sie sich ihren Vorgesetzten gegenüber zu einer Sprache hinreißen, die eine traurige Zukunft in Aussicht stellte. Die widerharige Nationalgarde discutirte die Befehle, schmollte mit ihren Führern, die sie sich doch selbst gewählt hatte und wenn ihr ein Auftrag un¬ nütz oder verdrießlich erschien, so scheute sie sich nicht, Alles zum Teufel zu wünschen.*) Das allgemeine Aufgebot der Nationalgarde hatte unter anderen Uebel¬ ständen eine sehr traurige Seite. Zur Herstellung der vielerlei Vertheidigung^-, Ausrüstungs- und Bekleidungsgegenstände brauchte man ungemein viele Arme. Aber namentlich in der ersten Zeit war es kaum möglich, sie zu finden, weil alle Welt Soldat spielte. Nichts erschien dem Handwerker und Arbeiter wür¬ diger, als ein Flingot über die Schulter zu hängen und auf den Wällen Schildwacht zu stehn. Mit Verachtung blickten die Helden auf die Arbeiter hinab, welche in der Werkstatt geblieben waren und behandelten sie fast wie Feiglinge — als wenn ein übermenschlicher Muth dazu gehörte, auf einer Platform, 6000 Meter vom Feinde, spazieren zu gehen. Statt zu arbeiten fand man es viel unterhaltender, sich unter dem Vorwande: man müsse erer- ciren oder Wache stehn, zu versammeln, und die Zeit bei Spielen, Lachen und ganz besonders beim Trinken zu verbringen. Die Nationalgardisten erhielten einen Tages so it von 1^ Franken, welchen die meisten Männer vertrauten, so daß später noch 7S C. für die Frauen und 25 für jedes Kind zugelegt werden mußten. Der Finanzminister Picard hatte sich der Besoldung der Nationalgarde im Staatsrathe widersetzt, weil sie dem Schatze eine Tagesausgabe von 800 Tausend bis zu 1 Million Franken verursache. Jules Favre aber kannte seine Leute. „Ohne den Sold", erklärt er selbst^*), „wäre Bewaffnung und Einübung der Nationalgarde und damit die Vertheidigung von Paris unmöglich gewesen." Gegen Bezahlung aber wollte das Proletariat Hobel und Hammer sehr gern mit der Flinte vertauschen. Die berühmten Nationalwerkstätten von 1848 (vergl. III. Quartal S. 503) kehrten in anderer Form wieder. Hier lag der Samen des Kommune¬ aufstandes. Einmal bewaffnet, begannen die „Miserables" Victor Hugo's sich zu fühlen, und vor Allem auffallend war der Eifer, mit welchem die der „Interna¬ tionale" ergebenen Bataillone sich mit Chassevots und Patronen versahen. Das I. Favre a. a. O. ") Scmey a. a. O.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/223>, abgerufen am 22.07.2024.