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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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und ruhigen Gesichtern las man, daß es solide Leute seien, mit denen man
Alles unternehmen könne, wenn man es verstehe, sie zu führen. Die Bre¬
tagne waren die ersten zur Stelle. "Die armen Kerle!" ruft Sarcey aus,
"ich sehe sie noch vor mir mit ihren langen Haaren, ihren erstaunten Ge¬
sichtern unter den großen runden Hüten, als sie ankamen in Paris. Die
meisten sprachen nicht einmal französisch und es war nicht möglich, sich ihnen
verständlich zu machen."

Hinter den Mobilen stand die Nationalgarde ((ZÄi'as nationale s6-
clöntaire). die allerdings noch kaum organisirt war. Ihr hatte die gestürzte
Regierung immer und mit großem Recht mißtraut und sich der berühmten
Definition erinnert: "Die Nationalgarde ist die Nation in Waffen gegenüber
der Regierungsgewalt." In einigen Stadtvierteln war sie völlig unterdrückt
gewesen, in allen war sie gesichtet und nur aus Leuten zusammengesetzt, auf
welche das Gouvernement zählen zu dürfen geglaubt hatte. Aber auch diesen
war durch reinen Paradedienst jeder innere Halt genommen, und zu Officieren
hatten sich nur noch Männer gemeldet, die sich nach dem rothen Bändchen
sehnten oder einfach wünschten, zu den officiellen Festlichkeiten eingeladen zu
werden. Wer sich von den Bürgern dem Dienst entziehen konnte, that es
gewiß, selbst auf die Gefahr hin, jährlich drei Tage im "Höwl aux naricots"
eingesperrt zu werden. Jetzt indessen hielt es jeder für seine Pflicht, in die
Nationalgarde einzutreten. -- Von früher her bestanden eben einige Batail¬
lone, die im Großen und Ganzen von wohlhabenden Bürgern, Kaufleuten,
Aerzten, Advocaten und Beamten gebildet waren und je 800 bis 1000 Mann
zählten, nun aber auf etwa 1200 Mann kamen. Sie hießen die "alten Ba°
taillone". Ihnen stellte man dann in den Bezirken, welche bisher keine Na¬
tionalgarde gehabt hatten, wie in Belleville, Menilmontant u. f. w., "neue
Bataillone" zur Seite, deren man übrigens auch in den reicheren Stadvierteln
gründen mußte; denn die Zahl der Anmeldungen war so bedeutend, daß die
alten Rahmen sie nicht alle aufnehmen konnten. Von S0.000 Mann stieg
die Masse der Nationalgarten allmählich bis auf eine Viertel-Million; aber
dabei befanden sich 28,000 Sträflinge und 6000 Sektirer, die zu Allem fähig
waren, was gegen die sociale Ordnung streitet.*) Gegen die Ansicht der Re¬
gierung, welche die bisherige theuere und unbequeme Uniform: Waffenrock
und Czako überall einführen wollte, entschied man sich durchweg für Gürtel¬
jacke und Käpi, und selbst die alten Bataillone nahmen bald diese Tracht an,
welche für lange hinaus die Tracht aller Pariser werden sollte. Man ging
nur noch in ihr aus, ja selbst wenn man Civil anlegte, behielt man doch
das Käpi auf dem Kopfe, um sich unter allen Umständen als Vaterlands-



") Trochu a. a. O.

und ruhigen Gesichtern las man, daß es solide Leute seien, mit denen man
Alles unternehmen könne, wenn man es verstehe, sie zu führen. Die Bre¬
tagne waren die ersten zur Stelle. „Die armen Kerle!" ruft Sarcey aus,
„ich sehe sie noch vor mir mit ihren langen Haaren, ihren erstaunten Ge¬
sichtern unter den großen runden Hüten, als sie ankamen in Paris. Die
meisten sprachen nicht einmal französisch und es war nicht möglich, sich ihnen
verständlich zu machen."

Hinter den Mobilen stand die Nationalgarde ((ZÄi'as nationale s6-
clöntaire). die allerdings noch kaum organisirt war. Ihr hatte die gestürzte
Regierung immer und mit großem Recht mißtraut und sich der berühmten
Definition erinnert: „Die Nationalgarde ist die Nation in Waffen gegenüber
der Regierungsgewalt." In einigen Stadtvierteln war sie völlig unterdrückt
gewesen, in allen war sie gesichtet und nur aus Leuten zusammengesetzt, auf
welche das Gouvernement zählen zu dürfen geglaubt hatte. Aber auch diesen
war durch reinen Paradedienst jeder innere Halt genommen, und zu Officieren
hatten sich nur noch Männer gemeldet, die sich nach dem rothen Bändchen
sehnten oder einfach wünschten, zu den officiellen Festlichkeiten eingeladen zu
werden. Wer sich von den Bürgern dem Dienst entziehen konnte, that es
gewiß, selbst auf die Gefahr hin, jährlich drei Tage im „Höwl aux naricots"
eingesperrt zu werden. Jetzt indessen hielt es jeder für seine Pflicht, in die
Nationalgarde einzutreten. — Von früher her bestanden eben einige Batail¬
lone, die im Großen und Ganzen von wohlhabenden Bürgern, Kaufleuten,
Aerzten, Advocaten und Beamten gebildet waren und je 800 bis 1000 Mann
zählten, nun aber auf etwa 1200 Mann kamen. Sie hießen die „alten Ba°
taillone". Ihnen stellte man dann in den Bezirken, welche bisher keine Na¬
tionalgarde gehabt hatten, wie in Belleville, Menilmontant u. f. w., „neue
Bataillone" zur Seite, deren man übrigens auch in den reicheren Stadvierteln
gründen mußte; denn die Zahl der Anmeldungen war so bedeutend, daß die
alten Rahmen sie nicht alle aufnehmen konnten. Von S0.000 Mann stieg
die Masse der Nationalgarten allmählich bis auf eine Viertel-Million; aber
dabei befanden sich 28,000 Sträflinge und 6000 Sektirer, die zu Allem fähig
waren, was gegen die sociale Ordnung streitet.*) Gegen die Ansicht der Re¬
gierung, welche die bisherige theuere und unbequeme Uniform: Waffenrock
und Czako überall einführen wollte, entschied man sich durchweg für Gürtel¬
jacke und Käpi, und selbst die alten Bataillone nahmen bald diese Tracht an,
welche für lange hinaus die Tracht aller Pariser werden sollte. Man ging
nur noch in ihr aus, ja selbst wenn man Civil anlegte, behielt man doch
das Käpi auf dem Kopfe, um sich unter allen Umständen als Vaterlands-



") Trochu a. a. O.
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[0222] und ruhigen Gesichtern las man, daß es solide Leute seien, mit denen man Alles unternehmen könne, wenn man es verstehe, sie zu führen. Die Bre¬ tagne waren die ersten zur Stelle. „Die armen Kerle!" ruft Sarcey aus, „ich sehe sie noch vor mir mit ihren langen Haaren, ihren erstaunten Ge¬ sichtern unter den großen runden Hüten, als sie ankamen in Paris. Die meisten sprachen nicht einmal französisch und es war nicht möglich, sich ihnen verständlich zu machen." Hinter den Mobilen stand die Nationalgarde ((ZÄi'as nationale s6- clöntaire). die allerdings noch kaum organisirt war. Ihr hatte die gestürzte Regierung immer und mit großem Recht mißtraut und sich der berühmten Definition erinnert: „Die Nationalgarde ist die Nation in Waffen gegenüber der Regierungsgewalt." In einigen Stadtvierteln war sie völlig unterdrückt gewesen, in allen war sie gesichtet und nur aus Leuten zusammengesetzt, auf welche das Gouvernement zählen zu dürfen geglaubt hatte. Aber auch diesen war durch reinen Paradedienst jeder innere Halt genommen, und zu Officieren hatten sich nur noch Männer gemeldet, die sich nach dem rothen Bändchen sehnten oder einfach wünschten, zu den officiellen Festlichkeiten eingeladen zu werden. Wer sich von den Bürgern dem Dienst entziehen konnte, that es gewiß, selbst auf die Gefahr hin, jährlich drei Tage im „Höwl aux naricots" eingesperrt zu werden. Jetzt indessen hielt es jeder für seine Pflicht, in die Nationalgarde einzutreten. — Von früher her bestanden eben einige Batail¬ lone, die im Großen und Ganzen von wohlhabenden Bürgern, Kaufleuten, Aerzten, Advocaten und Beamten gebildet waren und je 800 bis 1000 Mann zählten, nun aber auf etwa 1200 Mann kamen. Sie hießen die „alten Ba° taillone". Ihnen stellte man dann in den Bezirken, welche bisher keine Na¬ tionalgarde gehabt hatten, wie in Belleville, Menilmontant u. f. w., „neue Bataillone" zur Seite, deren man übrigens auch in den reicheren Stadvierteln gründen mußte; denn die Zahl der Anmeldungen war so bedeutend, daß die alten Rahmen sie nicht alle aufnehmen konnten. Von S0.000 Mann stieg die Masse der Nationalgarten allmählich bis auf eine Viertel-Million; aber dabei befanden sich 28,000 Sträflinge und 6000 Sektirer, die zu Allem fähig waren, was gegen die sociale Ordnung streitet.*) Gegen die Ansicht der Re¬ gierung, welche die bisherige theuere und unbequeme Uniform: Waffenrock und Czako überall einführen wollte, entschied man sich durchweg für Gürtel¬ jacke und Käpi, und selbst die alten Bataillone nahmen bald diese Tracht an, welche für lange hinaus die Tracht aller Pariser werden sollte. Man ging nur noch in ihr aus, ja selbst wenn man Civil anlegte, behielt man doch das Käpi auf dem Kopfe, um sich unter allen Umständen als Vaterlands- ") Trochu a. a. O.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/222>, abgerufen am 22.07.2024.