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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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und Juden, und doch blieb das Land ihnen werth bis auf unsere Tage, wo
sie hier gleichfalls sich vermindert haben. In England, wo im siebzehnten
Jahrhundert viele Tausende von Zigeunern herumschwciften, obwohl sie dort
nicht weniger verfolgt wurden als auf dem Festlande, sind sie gegenwärtig
viel seltener anzutreffen als bei uns. Sie vertragen, wie bemerkt, keine gute
Behandlung, und ihr Haupterwerbszweig in der Vergangenheit ist ihnen
durch die modischen Geisterklopfer und durch die bureaumäßig eingerichteten
Wahrsagereien mitten in London arg geschmälert worden. Uebrigens sind
sie hier ganz harmlose Leute, die sich meist als Kesselflicker, Scherenschleifer
oder Besenbinder nähren und nur bisweilen mit den Gerichten zu thun be¬
kommen, weil die Neigung zum Pferdediebstahl in einigen Familien erblich
ist. Das Volk ist ihnen im Allgemeinen nicht gram, und selbst in kleinen
Orten verschmähen die Honoratioren nicht, sich zu den gelegentlich veran¬
stalteten Zigeunerbällen einladen zu lassen. Die Neste der englischen Zigeu¬
ner scheinen jetzt keine geschlossene Familie mehr zu bilden, wie zu der Zeit,
wo sie zu Kelso in der südschottischcn Grafschaft Berwick ihre Königin hatten.
Doch halten die dortigen Angehörigen des Volkes zusammen und bewohnen
noch wie zu Jacob's des Ersten Tagen einen eigenen Stadttheil. Die Fürsten-
familie der englischen Zigeuner zerfällt in die Zweige der Lee, der Morris
und der Pinfold, indeß scheint es mit dem Erbrecht und der Appcmage in
derselben nicht glänzend bestellt zu sein, da erst vor Kurzem eine "Zigeuner¬
königin" im Arbeitshause untergebracht werden mußte. -- Auf Ungarn
scheint unsere halb scherzhafte Vermuthung, daß die Zigeuner zu ihrem Ge¬
deihen Verfolgung bedürfen, nicht zu passen: sie haben hier seit Jahr¬
zehnten alle Freiheit genossen und sind weder an Zahl zurückgegangen
noch haben die characteristischen Züge ihres VoMthums sich verwischt.
Dagegen bestätigen wieder die Donaufürstenthümer unsere Regel. Die
Zigeuner sind hier am zahlreichsten angesiedelt, und doch erlitten sie bis
auf die neueste Zeit gerade hier die härteste Behandlung. Noch in den vier¬
ziger Jahren konnte in der Hauptstadt der Walachei folgende Verkaufsanzeige
erscheinen: "Bei den Söhnen und Erben des verstorbenen Sirder Nikolaus Nita
in Bukarest sind 200 Zigeunerfamilien zu verkaufen, unter denen die Männer
meist Schlosser, Goldschmiede, Schuhmacher, Musikanten und Ackerleute sind.
Weniger als fünf Familien auf einmal werden nicht abgegeben, dagegen ist
der Preis für jede Person um einen Ducaten niedriger als gewöhnlich an¬
gesetzt und in Betreff der Zahlung wird jede mögliche Erleichterung gewährt
werden."

Die äußere Erscheinung der Zigeuner ist bekannt. Sie sind durch¬
schnittlich von Mittelgröße, schlank und kräftig gebaut, von schwarzen Haaren und
Augen und braungelber, bisweilen schwarzbrauner Gesichtsfarbe ohne Wangen-


und Juden, und doch blieb das Land ihnen werth bis auf unsere Tage, wo
sie hier gleichfalls sich vermindert haben. In England, wo im siebzehnten
Jahrhundert viele Tausende von Zigeunern herumschwciften, obwohl sie dort
nicht weniger verfolgt wurden als auf dem Festlande, sind sie gegenwärtig
viel seltener anzutreffen als bei uns. Sie vertragen, wie bemerkt, keine gute
Behandlung, und ihr Haupterwerbszweig in der Vergangenheit ist ihnen
durch die modischen Geisterklopfer und durch die bureaumäßig eingerichteten
Wahrsagereien mitten in London arg geschmälert worden. Uebrigens sind
sie hier ganz harmlose Leute, die sich meist als Kesselflicker, Scherenschleifer
oder Besenbinder nähren und nur bisweilen mit den Gerichten zu thun be¬
kommen, weil die Neigung zum Pferdediebstahl in einigen Familien erblich
ist. Das Volk ist ihnen im Allgemeinen nicht gram, und selbst in kleinen
Orten verschmähen die Honoratioren nicht, sich zu den gelegentlich veran¬
stalteten Zigeunerbällen einladen zu lassen. Die Neste der englischen Zigeu¬
ner scheinen jetzt keine geschlossene Familie mehr zu bilden, wie zu der Zeit,
wo sie zu Kelso in der südschottischcn Grafschaft Berwick ihre Königin hatten.
Doch halten die dortigen Angehörigen des Volkes zusammen und bewohnen
noch wie zu Jacob's des Ersten Tagen einen eigenen Stadttheil. Die Fürsten-
familie der englischen Zigeuner zerfällt in die Zweige der Lee, der Morris
und der Pinfold, indeß scheint es mit dem Erbrecht und der Appcmage in
derselben nicht glänzend bestellt zu sein, da erst vor Kurzem eine „Zigeuner¬
königin" im Arbeitshause untergebracht werden mußte. — Auf Ungarn
scheint unsere halb scherzhafte Vermuthung, daß die Zigeuner zu ihrem Ge¬
deihen Verfolgung bedürfen, nicht zu passen: sie haben hier seit Jahr¬
zehnten alle Freiheit genossen und sind weder an Zahl zurückgegangen
noch haben die characteristischen Züge ihres VoMthums sich verwischt.
Dagegen bestätigen wieder die Donaufürstenthümer unsere Regel. Die
Zigeuner sind hier am zahlreichsten angesiedelt, und doch erlitten sie bis
auf die neueste Zeit gerade hier die härteste Behandlung. Noch in den vier¬
ziger Jahren konnte in der Hauptstadt der Walachei folgende Verkaufsanzeige
erscheinen: „Bei den Söhnen und Erben des verstorbenen Sirder Nikolaus Nita
in Bukarest sind 200 Zigeunerfamilien zu verkaufen, unter denen die Männer
meist Schlosser, Goldschmiede, Schuhmacher, Musikanten und Ackerleute sind.
Weniger als fünf Familien auf einmal werden nicht abgegeben, dagegen ist
der Preis für jede Person um einen Ducaten niedriger als gewöhnlich an¬
gesetzt und in Betreff der Zahlung wird jede mögliche Erleichterung gewährt
werden."

Die äußere Erscheinung der Zigeuner ist bekannt. Sie sind durch¬
schnittlich von Mittelgröße, schlank und kräftig gebaut, von schwarzen Haaren und
Augen und braungelber, bisweilen schwarzbrauner Gesichtsfarbe ohne Wangen-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/211>, abgerufen am 02.07.2024.