Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sie einmal aus Aegypten, dann aus Kleinasien ausgewiesen worden, daß sie
eine Zeit lang bei den Magyaren als Musikanten und Jongleure gewesen
sind. Gewiß ist nur, daß sie 1417 in Schaaren, die viele Hunderte von
Köpfen zählten, die Grenze Deutschlands von Südosten her überschritten, in
Böhmen und Bayern, in der Schweiz und in Sachsen erschienen und zuletzt
bis über die Elbe vordrangen. Einzelne Züge schwärmten durch Frankreich
bis nach Spanien aus, andere setzten nach England über. Ihre Führer traten
mit fürstlicher Pracht und großen Titeln auf: in Augsburg nannte einer
derselben sich "Michael, Herzog von Aegypten", in Bologna ließ ein anderer
sich als "Andreas, Fürst der Aegypter" begrüßen. Das Volk dieser Poten¬
taten aber geberdete und nährte sich meist in der Weise der Landfahrer: es
trieb allerlei Hokuspocus, wahrsagte, zauberte, bettelte und stahl daneben nach
Möglichkeit. In Paris traten 1427 Zigeuner sogar als christliche Pilger
auf und "thaten Wunder".

Zuerst kam man ihnen nicht unfreundlich entgegen. Indeß machten ihre
unklaren Vorstellungen über Mein und Dein sie bald zur Landplage, und so
geschah es, daß binnen Kurzem allenthalben Verfolgung und Verbannung
über sie verhängt wurde. Nicht wenige wurden als Diebe gehenkt, andere
als Zauberer oder Hexen verbrannt. Bisweilen stellte man förmliche Hetz¬
jagden gegen sie an. Noch im Jahre 1725 befahl der König Friedrich Wil¬
helm von Preußen, "die Zigeuner, welche sich in dem königlich preußischen
Staatsgebiete betreten lassen und über achtzehn Jahre alt sind, ohne Unter¬
schied des Geschlechts, mit dem Galgen zu bestrafen." Aber das seltsame
Volk lebte unausrottbar fort trotz Galgen und Scheiterhaufen, und noch in
später Zeit prunkte in duldsameren Gegenden an seiner Spitze bisweilen ein
"Herzog von Aegypten" oder ein "König von Galiläa" oder gar ein "Kaiser
von Tunis", der den Thron bestiegen, nachdem sein Vorgänger von der
gestrengen Obrigkeit des Nachbarländchens gerädert oder geviertheilt worden
war. Fast scheint es, als ob die Zigeuner unter solcher Verfolgung besser ge¬
diehen wären, als in den späteren menschlich denkenden Zeiten. In Frank¬
reich war ihnen bis 1789 der Lieutenant criminel beinah ohne Unterlaß auf
den Fersen. Seit der Revolution ließ man sie unbehelligt und gewährte
ihnen sogar stillschweigend alle Rechte der übrigen Staatsangehörigen. Die
Folge aber ist, daß ihre Zahl mit jedem Jahre abnimmt, und daß sie den
Namen "1Zon6mioiiL" an eine andere Gesellschaftsclasse abgetreten haben, die
mit ihnen nur die Unarten, nicht das Blut gemein hat. Ebenso wird in
Italien seit einem Menschenalter eine starke Abnahme ihrer Zahl wahrge¬
nommen. In Spanien wurden sie von der heiligen Inquisition ungefähr
ebenso eifrig und gewissenhaft aufgespürt und zur Verzierung kirchlicher Ehren¬
tage mit Scheiterhaufen und ähnlichem Schmuck verwendet wie die Mauren


sie einmal aus Aegypten, dann aus Kleinasien ausgewiesen worden, daß sie
eine Zeit lang bei den Magyaren als Musikanten und Jongleure gewesen
sind. Gewiß ist nur, daß sie 1417 in Schaaren, die viele Hunderte von
Köpfen zählten, die Grenze Deutschlands von Südosten her überschritten, in
Böhmen und Bayern, in der Schweiz und in Sachsen erschienen und zuletzt
bis über die Elbe vordrangen. Einzelne Züge schwärmten durch Frankreich
bis nach Spanien aus, andere setzten nach England über. Ihre Führer traten
mit fürstlicher Pracht und großen Titeln auf: in Augsburg nannte einer
derselben sich „Michael, Herzog von Aegypten", in Bologna ließ ein anderer
sich als „Andreas, Fürst der Aegypter" begrüßen. Das Volk dieser Poten¬
taten aber geberdete und nährte sich meist in der Weise der Landfahrer: es
trieb allerlei Hokuspocus, wahrsagte, zauberte, bettelte und stahl daneben nach
Möglichkeit. In Paris traten 1427 Zigeuner sogar als christliche Pilger
auf und „thaten Wunder".

Zuerst kam man ihnen nicht unfreundlich entgegen. Indeß machten ihre
unklaren Vorstellungen über Mein und Dein sie bald zur Landplage, und so
geschah es, daß binnen Kurzem allenthalben Verfolgung und Verbannung
über sie verhängt wurde. Nicht wenige wurden als Diebe gehenkt, andere
als Zauberer oder Hexen verbrannt. Bisweilen stellte man förmliche Hetz¬
jagden gegen sie an. Noch im Jahre 1725 befahl der König Friedrich Wil¬
helm von Preußen, „die Zigeuner, welche sich in dem königlich preußischen
Staatsgebiete betreten lassen und über achtzehn Jahre alt sind, ohne Unter¬
schied des Geschlechts, mit dem Galgen zu bestrafen." Aber das seltsame
Volk lebte unausrottbar fort trotz Galgen und Scheiterhaufen, und noch in
später Zeit prunkte in duldsameren Gegenden an seiner Spitze bisweilen ein
„Herzog von Aegypten" oder ein „König von Galiläa" oder gar ein „Kaiser
von Tunis", der den Thron bestiegen, nachdem sein Vorgänger von der
gestrengen Obrigkeit des Nachbarländchens gerädert oder geviertheilt worden
war. Fast scheint es, als ob die Zigeuner unter solcher Verfolgung besser ge¬
diehen wären, als in den späteren menschlich denkenden Zeiten. In Frank¬
reich war ihnen bis 1789 der Lieutenant criminel beinah ohne Unterlaß auf
den Fersen. Seit der Revolution ließ man sie unbehelligt und gewährte
ihnen sogar stillschweigend alle Rechte der übrigen Staatsangehörigen. Die
Folge aber ist, daß ihre Zahl mit jedem Jahre abnimmt, und daß sie den
Namen „1Zon6mioiiL" an eine andere Gesellschaftsclasse abgetreten haben, die
mit ihnen nur die Unarten, nicht das Blut gemein hat. Ebenso wird in
Italien seit einem Menschenalter eine starke Abnahme ihrer Zahl wahrge¬
nommen. In Spanien wurden sie von der heiligen Inquisition ungefähr
ebenso eifrig und gewissenhaft aufgespürt und zur Verzierung kirchlicher Ehren¬
tage mit Scheiterhaufen und ähnlichem Schmuck verwendet wie die Mauren


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0210" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128664"/>
            <p xml:id="ID_615" prev="#ID_614"> sie einmal aus Aegypten, dann aus Kleinasien ausgewiesen worden, daß sie<lb/>
eine Zeit lang bei den Magyaren als Musikanten und Jongleure gewesen<lb/>
sind. Gewiß ist nur, daß sie 1417 in Schaaren, die viele Hunderte von<lb/>
Köpfen zählten, die Grenze Deutschlands von Südosten her überschritten, in<lb/>
Böhmen und Bayern, in der Schweiz und in Sachsen erschienen und zuletzt<lb/>
bis über die Elbe vordrangen. Einzelne Züge schwärmten durch Frankreich<lb/>
bis nach Spanien aus, andere setzten nach England über. Ihre Führer traten<lb/>
mit fürstlicher Pracht und großen Titeln auf: in Augsburg nannte einer<lb/>
derselben sich &#x201E;Michael, Herzog von Aegypten", in Bologna ließ ein anderer<lb/>
sich als &#x201E;Andreas, Fürst der Aegypter" begrüßen. Das Volk dieser Poten¬<lb/>
taten aber geberdete und nährte sich meist in der Weise der Landfahrer: es<lb/>
trieb allerlei Hokuspocus, wahrsagte, zauberte, bettelte und stahl daneben nach<lb/>
Möglichkeit. In Paris traten 1427 Zigeuner sogar als christliche Pilger<lb/>
auf und &#x201E;thaten Wunder".</p><lb/>
            <p xml:id="ID_616" next="#ID_617"> Zuerst kam man ihnen nicht unfreundlich entgegen. Indeß machten ihre<lb/>
unklaren Vorstellungen über Mein und Dein sie bald zur Landplage, und so<lb/>
geschah es, daß binnen Kurzem allenthalben Verfolgung und Verbannung<lb/>
über sie verhängt wurde. Nicht wenige wurden als Diebe gehenkt, andere<lb/>
als Zauberer oder Hexen verbrannt. Bisweilen stellte man förmliche Hetz¬<lb/>
jagden gegen sie an. Noch im Jahre 1725 befahl der König Friedrich Wil¬<lb/>
helm von Preußen, &#x201E;die Zigeuner, welche sich in dem königlich preußischen<lb/>
Staatsgebiete betreten lassen und über achtzehn Jahre alt sind, ohne Unter¬<lb/>
schied des Geschlechts, mit dem Galgen zu bestrafen." Aber das seltsame<lb/>
Volk lebte unausrottbar fort trotz Galgen und Scheiterhaufen, und noch in<lb/>
später Zeit prunkte in duldsameren Gegenden an seiner Spitze bisweilen ein<lb/>
&#x201E;Herzog von Aegypten" oder ein &#x201E;König von Galiläa" oder gar ein &#x201E;Kaiser<lb/>
von Tunis", der den Thron bestiegen, nachdem sein Vorgänger von der<lb/>
gestrengen Obrigkeit des Nachbarländchens gerädert oder geviertheilt worden<lb/>
war. Fast scheint es, als ob die Zigeuner unter solcher Verfolgung besser ge¬<lb/>
diehen wären, als in den späteren menschlich denkenden Zeiten. In Frank¬<lb/>
reich war ihnen bis 1789 der Lieutenant criminel beinah ohne Unterlaß auf<lb/>
den Fersen. Seit der Revolution ließ man sie unbehelligt und gewährte<lb/>
ihnen sogar stillschweigend alle Rechte der übrigen Staatsangehörigen. Die<lb/>
Folge aber ist, daß ihre Zahl mit jedem Jahre abnimmt, und daß sie den<lb/>
Namen &#x201E;1Zon6mioiiL" an eine andere Gesellschaftsclasse abgetreten haben, die<lb/>
mit ihnen nur die Unarten, nicht das Blut gemein hat. Ebenso wird in<lb/>
Italien seit einem Menschenalter eine starke Abnahme ihrer Zahl wahrge¬<lb/>
nommen. In Spanien wurden sie von der heiligen Inquisition ungefähr<lb/>
ebenso eifrig und gewissenhaft aufgespürt und zur Verzierung kirchlicher Ehren¬<lb/>
tage mit Scheiterhaufen und ähnlichem Schmuck verwendet wie die Mauren</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0210] sie einmal aus Aegypten, dann aus Kleinasien ausgewiesen worden, daß sie eine Zeit lang bei den Magyaren als Musikanten und Jongleure gewesen sind. Gewiß ist nur, daß sie 1417 in Schaaren, die viele Hunderte von Köpfen zählten, die Grenze Deutschlands von Südosten her überschritten, in Böhmen und Bayern, in der Schweiz und in Sachsen erschienen und zuletzt bis über die Elbe vordrangen. Einzelne Züge schwärmten durch Frankreich bis nach Spanien aus, andere setzten nach England über. Ihre Führer traten mit fürstlicher Pracht und großen Titeln auf: in Augsburg nannte einer derselben sich „Michael, Herzog von Aegypten", in Bologna ließ ein anderer sich als „Andreas, Fürst der Aegypter" begrüßen. Das Volk dieser Poten¬ taten aber geberdete und nährte sich meist in der Weise der Landfahrer: es trieb allerlei Hokuspocus, wahrsagte, zauberte, bettelte und stahl daneben nach Möglichkeit. In Paris traten 1427 Zigeuner sogar als christliche Pilger auf und „thaten Wunder". Zuerst kam man ihnen nicht unfreundlich entgegen. Indeß machten ihre unklaren Vorstellungen über Mein und Dein sie bald zur Landplage, und so geschah es, daß binnen Kurzem allenthalben Verfolgung und Verbannung über sie verhängt wurde. Nicht wenige wurden als Diebe gehenkt, andere als Zauberer oder Hexen verbrannt. Bisweilen stellte man förmliche Hetz¬ jagden gegen sie an. Noch im Jahre 1725 befahl der König Friedrich Wil¬ helm von Preußen, „die Zigeuner, welche sich in dem königlich preußischen Staatsgebiete betreten lassen und über achtzehn Jahre alt sind, ohne Unter¬ schied des Geschlechts, mit dem Galgen zu bestrafen." Aber das seltsame Volk lebte unausrottbar fort trotz Galgen und Scheiterhaufen, und noch in später Zeit prunkte in duldsameren Gegenden an seiner Spitze bisweilen ein „Herzog von Aegypten" oder ein „König von Galiläa" oder gar ein „Kaiser von Tunis", der den Thron bestiegen, nachdem sein Vorgänger von der gestrengen Obrigkeit des Nachbarländchens gerädert oder geviertheilt worden war. Fast scheint es, als ob die Zigeuner unter solcher Verfolgung besser ge¬ diehen wären, als in den späteren menschlich denkenden Zeiten. In Frank¬ reich war ihnen bis 1789 der Lieutenant criminel beinah ohne Unterlaß auf den Fersen. Seit der Revolution ließ man sie unbehelligt und gewährte ihnen sogar stillschweigend alle Rechte der übrigen Staatsangehörigen. Die Folge aber ist, daß ihre Zahl mit jedem Jahre abnimmt, und daß sie den Namen „1Zon6mioiiL" an eine andere Gesellschaftsclasse abgetreten haben, die mit ihnen nur die Unarten, nicht das Blut gemein hat. Ebenso wird in Italien seit einem Menschenalter eine starke Abnahme ihrer Zahl wahrge¬ nommen. In Spanien wurden sie von der heiligen Inquisition ungefähr ebenso eifrig und gewissenhaft aufgespürt und zur Verzierung kirchlicher Ehren¬ tage mit Scheiterhaufen und ähnlichem Schmuck verwendet wie die Mauren

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/210
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/210>, abgerufen am 30.06.2024.