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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band.

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Ketzerei zu identificiren. Allein auch in den gebildeten Ständen stieß man
auf mancherlei Schwierigkeit, denn hier wird der Maßstab der Gedankenfrei¬
heit an die Religion gelegt und jeder macht sich selbst sein eigenes Programm.
Es war von vornherein unmöglich jene Grenze von Reformen zu finden, die
allen gleichmäßig entsprochen hätte und dazu kam der weitere Umstand, daß
eine Menge von denkenden Männern zwar innerlich Mit der Bewegung voll¬
ständig harmonirten, aber nicht das mindeste Bedürfniß fühlten sich äußerlich
derselben anzuschließen.

Unter diesen Umständen kann von einer Massenwirkung des Altkatho¬
licismus natürlich keine Rede sein; gleichwohl fehlte es nicht ganz an einer
äußeren Ausbreitung; es wurden wenigstens im Kleinen neue Positionen
gewonnen. Die Gemeinde in München, die sich in der Gasteigkirche ver¬
sammelt, hat nichts von ihrer früheren Rührigkeit verloren; im Westen ist
Cöln das Hauptquartier der Bewegung ' und die Pantaleonskirche, die die
Altkatholiken dem Feldpropst Nanczanowski abrangen, war der erste große
Sieg ihrer Legitimität.

Daß in der Ostmark des Reiches die Stellung nicht erschüttert ist, das zeigen
die Vorgänge gegen den Ermeländer und zwischen diesen großen Knotenpunkten
liegen zahlreiche kleinere Stationen, die das Leben der Bewegung verbürgen
und ihre Beziehungen zum Publicum oder zur Wissenschaft aufrecht erhalten.
Wir erinnern an die Universitäten Bonn und Breslau, an die Haltung, die
die Hochschule München dieser Angelegenheit gegenüber einnimmt. Speciell
in Bayern nimmt auch die Provinz lebendigen Antheil. Fast jeder der acht
Kreise hat seinen eigenen Mittelpunkt für jene Bestrebungen, wie die Namen
sindet, Mering, Kempten und Andere dieß zeigen. Natürlich liegt es uns
gänzlich fern, damit etwa aus eine besondere Expansionskraft hinzuweisen,
oder gar zu behaupten, die Bewegung besitze breiten Boden im Volk; aber
andererseits sind doch auch Jene Lügen gestraft, die schon zu Beginn behaup¬
teten, daß nach wenig Wochen kein Mensch mehr von der Sache reden würde.

Für die Regierungen, die außerhalb der Action stehen, liegt ihr Schwer¬
punkt auch ganz wo anders als in der religiösen Mission, die sie sich selber
zuschreibt. Für uns ist ihre hohe Wichtigkeit vielmehr in dem politischen
Moment gelegen, das sich damit verbindet und das zu jener ganzen Richtung
den Anstoß gab, die jetzt in der inneren Politik des Reiches herrscht. Die
schroffe und entschiedene Stellung, welche die Centrumsfraction zur Stunde
einnimmt, ward dadurch wesentlich gezeitigt und klargestellt; die Nothwendig¬
keit, auf dem Gebiet der Schule die Unabhängigkeit des Staates zu wahren,
das Eherecht und viele andere bürgerliche Verhältnisse von der Vormundschaft
der Kirche zu befreien, erkannte man in dringendster Weise an der Hand
jener MißHelligkeiten, die sich aus dem -- Altkatholicismus ergaben.


Ketzerei zu identificiren. Allein auch in den gebildeten Ständen stieß man
auf mancherlei Schwierigkeit, denn hier wird der Maßstab der Gedankenfrei¬
heit an die Religion gelegt und jeder macht sich selbst sein eigenes Programm.
Es war von vornherein unmöglich jene Grenze von Reformen zu finden, die
allen gleichmäßig entsprochen hätte und dazu kam der weitere Umstand, daß
eine Menge von denkenden Männern zwar innerlich Mit der Bewegung voll¬
ständig harmonirten, aber nicht das mindeste Bedürfniß fühlten sich äußerlich
derselben anzuschließen.

Unter diesen Umständen kann von einer Massenwirkung des Altkatho¬
licismus natürlich keine Rede sein; gleichwohl fehlte es nicht ganz an einer
äußeren Ausbreitung; es wurden wenigstens im Kleinen neue Positionen
gewonnen. Die Gemeinde in München, die sich in der Gasteigkirche ver¬
sammelt, hat nichts von ihrer früheren Rührigkeit verloren; im Westen ist
Cöln das Hauptquartier der Bewegung ' und die Pantaleonskirche, die die
Altkatholiken dem Feldpropst Nanczanowski abrangen, war der erste große
Sieg ihrer Legitimität.

Daß in der Ostmark des Reiches die Stellung nicht erschüttert ist, das zeigen
die Vorgänge gegen den Ermeländer und zwischen diesen großen Knotenpunkten
liegen zahlreiche kleinere Stationen, die das Leben der Bewegung verbürgen
und ihre Beziehungen zum Publicum oder zur Wissenschaft aufrecht erhalten.
Wir erinnern an die Universitäten Bonn und Breslau, an die Haltung, die
die Hochschule München dieser Angelegenheit gegenüber einnimmt. Speciell
in Bayern nimmt auch die Provinz lebendigen Antheil. Fast jeder der acht
Kreise hat seinen eigenen Mittelpunkt für jene Bestrebungen, wie die Namen
sindet, Mering, Kempten und Andere dieß zeigen. Natürlich liegt es uns
gänzlich fern, damit etwa aus eine besondere Expansionskraft hinzuweisen,
oder gar zu behaupten, die Bewegung besitze breiten Boden im Volk; aber
andererseits sind doch auch Jene Lügen gestraft, die schon zu Beginn behaup¬
teten, daß nach wenig Wochen kein Mensch mehr von der Sache reden würde.

Für die Regierungen, die außerhalb der Action stehen, liegt ihr Schwer¬
punkt auch ganz wo anders als in der religiösen Mission, die sie sich selber
zuschreibt. Für uns ist ihre hohe Wichtigkeit vielmehr in dem politischen
Moment gelegen, das sich damit verbindet und das zu jener ganzen Richtung
den Anstoß gab, die jetzt in der inneren Politik des Reiches herrscht. Die
schroffe und entschiedene Stellung, welche die Centrumsfraction zur Stunde
einnimmt, ward dadurch wesentlich gezeitigt und klargestellt; die Nothwendig¬
keit, auf dem Gebiet der Schule die Unabhängigkeit des Staates zu wahren,
das Eherecht und viele andere bürgerliche Verhältnisse von der Vormundschaft
der Kirche zu befreien, erkannte man in dringendster Weise an der Hand
jener MißHelligkeiten, die sich aus dem — Altkatholicismus ergaben.


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[0126] Ketzerei zu identificiren. Allein auch in den gebildeten Ständen stieß man auf mancherlei Schwierigkeit, denn hier wird der Maßstab der Gedankenfrei¬ heit an die Religion gelegt und jeder macht sich selbst sein eigenes Programm. Es war von vornherein unmöglich jene Grenze von Reformen zu finden, die allen gleichmäßig entsprochen hätte und dazu kam der weitere Umstand, daß eine Menge von denkenden Männern zwar innerlich Mit der Bewegung voll¬ ständig harmonirten, aber nicht das mindeste Bedürfniß fühlten sich äußerlich derselben anzuschließen. Unter diesen Umständen kann von einer Massenwirkung des Altkatho¬ licismus natürlich keine Rede sein; gleichwohl fehlte es nicht ganz an einer äußeren Ausbreitung; es wurden wenigstens im Kleinen neue Positionen gewonnen. Die Gemeinde in München, die sich in der Gasteigkirche ver¬ sammelt, hat nichts von ihrer früheren Rührigkeit verloren; im Westen ist Cöln das Hauptquartier der Bewegung ' und die Pantaleonskirche, die die Altkatholiken dem Feldpropst Nanczanowski abrangen, war der erste große Sieg ihrer Legitimität. Daß in der Ostmark des Reiches die Stellung nicht erschüttert ist, das zeigen die Vorgänge gegen den Ermeländer und zwischen diesen großen Knotenpunkten liegen zahlreiche kleinere Stationen, die das Leben der Bewegung verbürgen und ihre Beziehungen zum Publicum oder zur Wissenschaft aufrecht erhalten. Wir erinnern an die Universitäten Bonn und Breslau, an die Haltung, die die Hochschule München dieser Angelegenheit gegenüber einnimmt. Speciell in Bayern nimmt auch die Provinz lebendigen Antheil. Fast jeder der acht Kreise hat seinen eigenen Mittelpunkt für jene Bestrebungen, wie die Namen sindet, Mering, Kempten und Andere dieß zeigen. Natürlich liegt es uns gänzlich fern, damit etwa aus eine besondere Expansionskraft hinzuweisen, oder gar zu behaupten, die Bewegung besitze breiten Boden im Volk; aber andererseits sind doch auch Jene Lügen gestraft, die schon zu Beginn behaup¬ teten, daß nach wenig Wochen kein Mensch mehr von der Sache reden würde. Für die Regierungen, die außerhalb der Action stehen, liegt ihr Schwer¬ punkt auch ganz wo anders als in der religiösen Mission, die sie sich selber zuschreibt. Für uns ist ihre hohe Wichtigkeit vielmehr in dem politischen Moment gelegen, das sich damit verbindet und das zu jener ganzen Richtung den Anstoß gab, die jetzt in der inneren Politik des Reiches herrscht. Die schroffe und entschiedene Stellung, welche die Centrumsfraction zur Stunde einnimmt, ward dadurch wesentlich gezeitigt und klargestellt; die Nothwendig¬ keit, auf dem Gebiet der Schule die Unabhängigkeit des Staates zu wahren, das Eherecht und viele andere bürgerliche Verhältnisse von der Vormundschaft der Kirche zu befreien, erkannte man in dringendster Weise an der Hand jener MißHelligkeiten, die sich aus dem — Altkatholicismus ergaben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_128453/126>, abgerufen am 04.07.2024.