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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Was Napoleon I> nicht gewagt, das wagte der Lyriker Lamartine, und er hatte
recht; denn der Name "Republik" übte auf die Kinder des Proletariats von
1848 dieselbe fascinirende Gewalt, wie im Jahre 1871 auf den alten Garibaldi.
Einstweilen, bis die Formation der Mobilgarde vollendet war, übernahmen
Militärschüler, Studenten und freiwillige Nationalgardisten den Schutz der
Rathhausregierung, und auch die Tuilerien wurden endlich von den "Volks¬
kämpfern" geräumt, nachdem ihnen vertragsmäßig zugesichert war, daß ihre
Taschen nicht untersucht werden sollten. So ging die Gefahr augenblicklicher
Kämpfe mit den Socialisten vorüber, und da sich ganz Frankreich widerstands¬
los von Paris die Republik auferlegen ließ, verschwand auch die andere
drohende Gefahr: die einer royalistischen Reaction durch die Söhne des Königs,
von denen der eine, der Herzog von Aumale, als Gouverneur von Algier an
der Spitze von 100.000 Mann, der andere, Prinz Joinville, im Kommando
einer stattlichen Flotte stand. Ein Theil der Officiere war geneigt, diese Her¬
ren an der Spitze der Armee von Algier nach Paris zurückzuführen; ihr Wort¬
führer war der General Changarnier. Aber die Prinzen waren wenig geneigt,
sich auf einen Kampf einzulassen; sie fühlten, daß sie eben nur bei der Armee
von Algier einiger Popularität genössen. In würdigen Formen legten sie
ihre Commandostellen nieder, und Heer und Flotte thaten keinen Schritt mehr,
sie zu halten.

Es handelte sich nun darum, welche Stellung die europäischen Mächte
gegenüber der Februar-Revolution nehmen würden und welchen Druck etwa
die französischen Chauvinisten zu Gunsten einer " Revision der Verträge von
181S" auf die Regierung ausüben würden. Auf alle Fälle galt es, sich
kriegsbereit zu machen. Lamartine veranlaßte den Beschluß, das Heer von
dem vorgefundenen Bestand von 360,000 Mann auf 600,000 zu bringen,
und wenn auch diese Zahl allerdings bei Weitem nicht erreicht wurde, so
geschah doch alles Mögliche, um durch Einziehung von Beurlaubten u, s. w.
die Reihen zu füllen, wobei sich besonders die von Ledru-Rollin mit unbe¬
schränkter Vollmacht in die Departements gesendeten Civileommissäre thätig
erwiesen. Eilig und eifrig wurden Observationscorps formirt und an die
Grenze geschoben; das gegen Deutschland hoffte Lamartine auf 200,000 Mann
zu bringen.*) -- Aber es galt nicht nur die Armee zu verstärken, sondern noch
mehr, Selbstvertrauen und Mannszucht in ihr herzustellen. Der alte General
Subervic, der im ersten Augenblick zum Kriegsminister ernannt worden, er¬
wies sich seiner Stelle in keiner Weise gewachsen, und so übernahm der Astro-



") Natürlich nicht etwa, um anzugreifen, sondern, um auf den Ruf des deutschen Volkes
sofort über den Rhein gehen und ihm uneigennützigen Beistand bringen zu können. -- Vergl.
I^mÄrtms: Ristoii'ö I" Revolution Sö 1848. 'I'vins II.

Was Napoleon I> nicht gewagt, das wagte der Lyriker Lamartine, und er hatte
recht; denn der Name „Republik" übte auf die Kinder des Proletariats von
1848 dieselbe fascinirende Gewalt, wie im Jahre 1871 auf den alten Garibaldi.
Einstweilen, bis die Formation der Mobilgarde vollendet war, übernahmen
Militärschüler, Studenten und freiwillige Nationalgardisten den Schutz der
Rathhausregierung, und auch die Tuilerien wurden endlich von den „Volks¬
kämpfern" geräumt, nachdem ihnen vertragsmäßig zugesichert war, daß ihre
Taschen nicht untersucht werden sollten. So ging die Gefahr augenblicklicher
Kämpfe mit den Socialisten vorüber, und da sich ganz Frankreich widerstands¬
los von Paris die Republik auferlegen ließ, verschwand auch die andere
drohende Gefahr: die einer royalistischen Reaction durch die Söhne des Königs,
von denen der eine, der Herzog von Aumale, als Gouverneur von Algier an
der Spitze von 100.000 Mann, der andere, Prinz Joinville, im Kommando
einer stattlichen Flotte stand. Ein Theil der Officiere war geneigt, diese Her¬
ren an der Spitze der Armee von Algier nach Paris zurückzuführen; ihr Wort¬
führer war der General Changarnier. Aber die Prinzen waren wenig geneigt,
sich auf einen Kampf einzulassen; sie fühlten, daß sie eben nur bei der Armee
von Algier einiger Popularität genössen. In würdigen Formen legten sie
ihre Commandostellen nieder, und Heer und Flotte thaten keinen Schritt mehr,
sie zu halten.

Es handelte sich nun darum, welche Stellung die europäischen Mächte
gegenüber der Februar-Revolution nehmen würden und welchen Druck etwa
die französischen Chauvinisten zu Gunsten einer „ Revision der Verträge von
181S" auf die Regierung ausüben würden. Auf alle Fälle galt es, sich
kriegsbereit zu machen. Lamartine veranlaßte den Beschluß, das Heer von
dem vorgefundenen Bestand von 360,000 Mann auf 600,000 zu bringen,
und wenn auch diese Zahl allerdings bei Weitem nicht erreicht wurde, so
geschah doch alles Mögliche, um durch Einziehung von Beurlaubten u, s. w.
die Reihen zu füllen, wobei sich besonders die von Ledru-Rollin mit unbe¬
schränkter Vollmacht in die Departements gesendeten Civileommissäre thätig
erwiesen. Eilig und eifrig wurden Observationscorps formirt und an die
Grenze geschoben; das gegen Deutschland hoffte Lamartine auf 200,000 Mann
zu bringen.*) — Aber es galt nicht nur die Armee zu verstärken, sondern noch
mehr, Selbstvertrauen und Mannszucht in ihr herzustellen. Der alte General
Subervic, der im ersten Augenblick zum Kriegsminister ernannt worden, er¬
wies sich seiner Stelle in keiner Weise gewachsen, und so übernahm der Astro-



") Natürlich nicht etwa, um anzugreifen, sondern, um auf den Ruf des deutschen Volkes
sofort über den Rhein gehen und ihm uneigennützigen Beistand bringen zu können. — Vergl.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/509>, abgerufen am 23.07.2024.