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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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nom Arago neben dem Marineministerium provisorisch auch noch das des
Krieges. Selbstverständlich lieh er eben nur den Namen. Die Aufgaben,
welche die unter ihm arbeitenden Fachmänner zu lösen hatten, waren keine
leichten. Der moralische Gehalt der Armee erwies sich als aufs Aeußerste
reducirt. Namentlich die aus der Stadt verwiesenen pariser Regimenter be¬
fanden sich geradezu in Auflösung. Zu Hunderten schnürten die Soldaten
ihr Bündel und wanderten der Heimath zu. Sogar unter den Invaliden,
dem einzigen noch zu Paris geduldeten Corps, herrschte der Geist der Empö¬
rung in dem Grade, daß sie ihren alten Vice-Gouverneur, den General Petit,
unter Mißhandlungen aus seiner Wohnung rissen, ihn an Händen und Füßen
gebunden auf einen Karren warfen und zum Stadthause fuhren, um ihn
wegen Küchenbeschwerden vor der provisorischen Regierung zu verklagen.*)

Angesichts dieser Zerrüttung der Armee erschien es doppelt nothwendig,
die Reorganisation der Nationalgarde mit größter Energie zu be¬
treiben. Am 20. April fand eine große Heerschau über dieselbe statt, "Fest
der Verbrüderung" genannt, bei welcher die Nationalgarde, an 260,000 M.
stark, zehn bis zwölf Stunden lang vor der provisorischen Regierung defilirte
und durch Verleihung neuer Fahnen für die Republik in Eid und Pflicht
genommen wurde. Das Zeichen der letzteren war der krähende gallische
Hahn, welcher die Spitzen der Fahnen, auch die der Armee, von nun an
schmückte.

Der Taumel der Unordnung unter den Truppen ließ übrigens verhält¬
nißmäßig schnell nach. Mehr als alle disciplinarischen Maßregeln der Vor¬
gesetzten wirkte dabei das Gefühl der Isolirung, welches die Truppen be¬
herrschte, die wachsende Scham, über die elende Rolle, welche sie gespielt und
ein glühender Haß gegen die Pöbelrotten, welche sie beschimpft und welche zur
Zeit die Herrschaft in Paris an sich reißen zu wollen schienen.

Denn während die Gefahr ausländischer Eingriffe in die neue Verfassung
Frankreichs bald genug als nicht vorhanden erkannt wurde, zeigte sich die
Macht der inneren Umsturzelemente: der Chauvinisten und Socialisten um so
größer. Die Ersteren begannen mit Einfällen in Belgien und Savoyen, um
dort Propaganda für die Republik zu machen, sie bemächtigten sich sogar
Chambery's, wurden indessen von den Einwohnern bald und entschieden wieder
aus dem Lande gejagt. Verhängnißvoller aber schienen die Volksdemonstra-



") Die Negierung hob alle bisherigen Unterschiede in der Uniformirung Namens der
Gleichheit auf, zum großen Verdruß der den wohlhabenden Bourgcoisklassen angehörenden Gre¬
nadiere und Voltigeurs der Pariser Garde, welche so stolz gewesen waren aus ihre Bären¬
mützen. Bürgerdcputationen für die Bären, Arbeiterdemonstrationen gegen die Bären lösten
sich in Arago's Arbeitszimmer ab; aber die martialische Kopfbedeckung fiel definitiv.

nom Arago neben dem Marineministerium provisorisch auch noch das des
Krieges. Selbstverständlich lieh er eben nur den Namen. Die Aufgaben,
welche die unter ihm arbeitenden Fachmänner zu lösen hatten, waren keine
leichten. Der moralische Gehalt der Armee erwies sich als aufs Aeußerste
reducirt. Namentlich die aus der Stadt verwiesenen pariser Regimenter be¬
fanden sich geradezu in Auflösung. Zu Hunderten schnürten die Soldaten
ihr Bündel und wanderten der Heimath zu. Sogar unter den Invaliden,
dem einzigen noch zu Paris geduldeten Corps, herrschte der Geist der Empö¬
rung in dem Grade, daß sie ihren alten Vice-Gouverneur, den General Petit,
unter Mißhandlungen aus seiner Wohnung rissen, ihn an Händen und Füßen
gebunden auf einen Karren warfen und zum Stadthause fuhren, um ihn
wegen Küchenbeschwerden vor der provisorischen Regierung zu verklagen.*)

Angesichts dieser Zerrüttung der Armee erschien es doppelt nothwendig,
die Reorganisation der Nationalgarde mit größter Energie zu be¬
treiben. Am 20. April fand eine große Heerschau über dieselbe statt, „Fest
der Verbrüderung" genannt, bei welcher die Nationalgarde, an 260,000 M.
stark, zehn bis zwölf Stunden lang vor der provisorischen Regierung defilirte
und durch Verleihung neuer Fahnen für die Republik in Eid und Pflicht
genommen wurde. Das Zeichen der letzteren war der krähende gallische
Hahn, welcher die Spitzen der Fahnen, auch die der Armee, von nun an
schmückte.

Der Taumel der Unordnung unter den Truppen ließ übrigens verhält¬
nißmäßig schnell nach. Mehr als alle disciplinarischen Maßregeln der Vor¬
gesetzten wirkte dabei das Gefühl der Isolirung, welches die Truppen be¬
herrschte, die wachsende Scham, über die elende Rolle, welche sie gespielt und
ein glühender Haß gegen die Pöbelrotten, welche sie beschimpft und welche zur
Zeit die Herrschaft in Paris an sich reißen zu wollen schienen.

Denn während die Gefahr ausländischer Eingriffe in die neue Verfassung
Frankreichs bald genug als nicht vorhanden erkannt wurde, zeigte sich die
Macht der inneren Umsturzelemente: der Chauvinisten und Socialisten um so
größer. Die Ersteren begannen mit Einfällen in Belgien und Savoyen, um
dort Propaganda für die Republik zu machen, sie bemächtigten sich sogar
Chambery's, wurden indessen von den Einwohnern bald und entschieden wieder
aus dem Lande gejagt. Verhängnißvoller aber schienen die Volksdemonstra-



") Die Negierung hob alle bisherigen Unterschiede in der Uniformirung Namens der
Gleichheit auf, zum großen Verdruß der den wohlhabenden Bourgcoisklassen angehörenden Gre¬
nadiere und Voltigeurs der Pariser Garde, welche so stolz gewesen waren aus ihre Bären¬
mützen. Bürgerdcputationen für die Bären, Arbeiterdemonstrationen gegen die Bären lösten
sich in Arago's Arbeitszimmer ab; aber die martialische Kopfbedeckung fiel definitiv.
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[0510] nom Arago neben dem Marineministerium provisorisch auch noch das des Krieges. Selbstverständlich lieh er eben nur den Namen. Die Aufgaben, welche die unter ihm arbeitenden Fachmänner zu lösen hatten, waren keine leichten. Der moralische Gehalt der Armee erwies sich als aufs Aeußerste reducirt. Namentlich die aus der Stadt verwiesenen pariser Regimenter be¬ fanden sich geradezu in Auflösung. Zu Hunderten schnürten die Soldaten ihr Bündel und wanderten der Heimath zu. Sogar unter den Invaliden, dem einzigen noch zu Paris geduldeten Corps, herrschte der Geist der Empö¬ rung in dem Grade, daß sie ihren alten Vice-Gouverneur, den General Petit, unter Mißhandlungen aus seiner Wohnung rissen, ihn an Händen und Füßen gebunden auf einen Karren warfen und zum Stadthause fuhren, um ihn wegen Küchenbeschwerden vor der provisorischen Regierung zu verklagen.*) Angesichts dieser Zerrüttung der Armee erschien es doppelt nothwendig, die Reorganisation der Nationalgarde mit größter Energie zu be¬ treiben. Am 20. April fand eine große Heerschau über dieselbe statt, „Fest der Verbrüderung" genannt, bei welcher die Nationalgarde, an 260,000 M. stark, zehn bis zwölf Stunden lang vor der provisorischen Regierung defilirte und durch Verleihung neuer Fahnen für die Republik in Eid und Pflicht genommen wurde. Das Zeichen der letzteren war der krähende gallische Hahn, welcher die Spitzen der Fahnen, auch die der Armee, von nun an schmückte. Der Taumel der Unordnung unter den Truppen ließ übrigens verhält¬ nißmäßig schnell nach. Mehr als alle disciplinarischen Maßregeln der Vor¬ gesetzten wirkte dabei das Gefühl der Isolirung, welches die Truppen be¬ herrschte, die wachsende Scham, über die elende Rolle, welche sie gespielt und ein glühender Haß gegen die Pöbelrotten, welche sie beschimpft und welche zur Zeit die Herrschaft in Paris an sich reißen zu wollen schienen. Denn während die Gefahr ausländischer Eingriffe in die neue Verfassung Frankreichs bald genug als nicht vorhanden erkannt wurde, zeigte sich die Macht der inneren Umsturzelemente: der Chauvinisten und Socialisten um so größer. Die Ersteren begannen mit Einfällen in Belgien und Savoyen, um dort Propaganda für die Republik zu machen, sie bemächtigten sich sogar Chambery's, wurden indessen von den Einwohnern bald und entschieden wieder aus dem Lande gejagt. Verhängnißvoller aber schienen die Volksdemonstra- ") Die Negierung hob alle bisherigen Unterschiede in der Uniformirung Namens der Gleichheit auf, zum großen Verdruß der den wohlhabenden Bourgcoisklassen angehörenden Gre¬ nadiere und Voltigeurs der Pariser Garde, welche so stolz gewesen waren aus ihre Bären¬ mützen. Bürgerdcputationen für die Bären, Arbeiterdemonstrationen gegen die Bären lösten sich in Arago's Arbeitszimmer ab; aber die martialische Kopfbedeckung fiel definitiv.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/510>, abgerufen am 24.07.2024.