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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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vollzogen werden? Das läßt sich schwer denken, weil es schwer auszuführen
wäre. Visitationen, Theilnahme an denselben so wie an den Synodalver¬
sammlungen, Bestätigungen oder Ablehnungen bei Versetzungen von Pfarrern,
Werthschätzung der Pfarrer. Vertheilung von Gehaltszulagen an dieselben, die
Disciplin über sie, fo daß eine Appellation von ihrem Spruche nicht möglich,
sondern nur die Nullitätsklage vor dem höchsten Gerichtshofe zulässig erscheint,
Aufsicht über ein Seminar für Elementarschullehrer, Beurtheilungen über die
Synodalverhandlungen, auch Entscheidungen in Bezug auf einzelne Gegen¬
stände derselben, der Erlaß von Hirtenbriefen, eine alle zehn Jahre sich wie¬
derholende Revision des Kultus, genaue Aufsicht über die Kandidaten, diese
Gebiete zu bearbeiten, bildet die Aufgabe der Kapitel und Bischöfe. Und
welche Thätigkeit ist dem Staate zuerkannt? Er führt die Oberaufsicht durch
einen Minister, der sich die Mitglieder seines Kirchenraths wählt und die
Provinzialcommissarien und Synodalbevollmächtigten ernennt. Dieser Kirchen¬
rath hätte aus dreierlei Mitgliedern, Geistlichen, andern Gelehrten und Fi¬
nanzbeamten zu bestehen. Der Minister hat den Bischöfen im Kapitel nicht
unmittelbar zu befehlen, sondern sie nur zu erinnern. Macht sich ein Bischof
wesentlicher Vergehungen in seinem Amte schuldig, so wird er vom König
in seinem Staatsrathe gerichtet. Wird eine Repräsentation des Volks in
zwei Häusern errichtet, so könnten die Bischöfe, vielleicht auch die Stifts¬
dechanten, ihre Vertreter, ihren Sitz im obern Hause haben.

Der erste Eindruck, den dieser Entwurf machen muß, ist gewiß eine Be¬
fremdung und Verwunderung darüber, daß der Mann, welcher so klar und
deutlich die Gefahren der episkopalen Verfassung erkannt und ausgesprochen
hat, sie hier dennoch befürwortet; daß der Feind jeglicher Hierarchie in die
Hand des Clerus die höhere und höchste Leitung der Kirche legt; daß der
Freund einer die mannichfachsten Gegensätze in sich schließenden Auffassung
des Christenthums und Protestantismus an strenge kirchliche Bedingungen
die Theilnahme an den kirchlichen Rechten knüpft. Ich will mich nicht darauf
beziehen, daß der Unterschied der Zeiten hier in Betracht kommt, daß Schleier¬
macher früher anders als später geurtheilt hat. Obwohl dies richtig und zu
berücksichtigen ist, dürfen wir doch nicht unterlassen, die Verbindung zwi¬
schen den früheren und späteren Urtheilen Schleiermacher's herzustellen. Es
ist richtig, Schleiermacher hat auf dogmatischen Gebiet ein sehr großes Maß
der Freiheit der individuellen Persönlichkeit eingeräumt, aber, wie er ein sehr
scharfer und strenger Ethiker war, so hat er, der dankbare Zögling und im¬
mer warme Freund der Brüdergemeinde, die Bethätigung, die praktische Er¬
weisung des kirchlichen Lebens sehr hoch geachtet. Es ist richtig, er hat keine
große Sympathien für den Episkopatismus gehegt, und doch hat die schwe¬
dische Verfassung der Kirche ihm Theilnahme eingeflößt. Und sollte sie gerade


Grenzboten III. 1872. 63

vollzogen werden? Das läßt sich schwer denken, weil es schwer auszuführen
wäre. Visitationen, Theilnahme an denselben so wie an den Synodalver¬
sammlungen, Bestätigungen oder Ablehnungen bei Versetzungen von Pfarrern,
Werthschätzung der Pfarrer. Vertheilung von Gehaltszulagen an dieselben, die
Disciplin über sie, fo daß eine Appellation von ihrem Spruche nicht möglich,
sondern nur die Nullitätsklage vor dem höchsten Gerichtshofe zulässig erscheint,
Aufsicht über ein Seminar für Elementarschullehrer, Beurtheilungen über die
Synodalverhandlungen, auch Entscheidungen in Bezug auf einzelne Gegen¬
stände derselben, der Erlaß von Hirtenbriefen, eine alle zehn Jahre sich wie¬
derholende Revision des Kultus, genaue Aufsicht über die Kandidaten, diese
Gebiete zu bearbeiten, bildet die Aufgabe der Kapitel und Bischöfe. Und
welche Thätigkeit ist dem Staate zuerkannt? Er führt die Oberaufsicht durch
einen Minister, der sich die Mitglieder seines Kirchenraths wählt und die
Provinzialcommissarien und Synodalbevollmächtigten ernennt. Dieser Kirchen¬
rath hätte aus dreierlei Mitgliedern, Geistlichen, andern Gelehrten und Fi¬
nanzbeamten zu bestehen. Der Minister hat den Bischöfen im Kapitel nicht
unmittelbar zu befehlen, sondern sie nur zu erinnern. Macht sich ein Bischof
wesentlicher Vergehungen in seinem Amte schuldig, so wird er vom König
in seinem Staatsrathe gerichtet. Wird eine Repräsentation des Volks in
zwei Häusern errichtet, so könnten die Bischöfe, vielleicht auch die Stifts¬
dechanten, ihre Vertreter, ihren Sitz im obern Hause haben.

Der erste Eindruck, den dieser Entwurf machen muß, ist gewiß eine Be¬
fremdung und Verwunderung darüber, daß der Mann, welcher so klar und
deutlich die Gefahren der episkopalen Verfassung erkannt und ausgesprochen
hat, sie hier dennoch befürwortet; daß der Feind jeglicher Hierarchie in die
Hand des Clerus die höhere und höchste Leitung der Kirche legt; daß der
Freund einer die mannichfachsten Gegensätze in sich schließenden Auffassung
des Christenthums und Protestantismus an strenge kirchliche Bedingungen
die Theilnahme an den kirchlichen Rechten knüpft. Ich will mich nicht darauf
beziehen, daß der Unterschied der Zeiten hier in Betracht kommt, daß Schleier¬
macher früher anders als später geurtheilt hat. Obwohl dies richtig und zu
berücksichtigen ist, dürfen wir doch nicht unterlassen, die Verbindung zwi¬
schen den früheren und späteren Urtheilen Schleiermacher's herzustellen. Es
ist richtig, Schleiermacher hat auf dogmatischen Gebiet ein sehr großes Maß
der Freiheit der individuellen Persönlichkeit eingeräumt, aber, wie er ein sehr
scharfer und strenger Ethiker war, so hat er, der dankbare Zögling und im¬
mer warme Freund der Brüdergemeinde, die Bethätigung, die praktische Er¬
weisung des kirchlichen Lebens sehr hoch geachtet. Es ist richtig, er hat keine
große Sympathien für den Episkopatismus gehegt, und doch hat die schwe¬
dische Verfassung der Kirche ihm Theilnahme eingeflößt. Und sollte sie gerade


Grenzboten III. 1872. 63
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[0497] vollzogen werden? Das läßt sich schwer denken, weil es schwer auszuführen wäre. Visitationen, Theilnahme an denselben so wie an den Synodalver¬ sammlungen, Bestätigungen oder Ablehnungen bei Versetzungen von Pfarrern, Werthschätzung der Pfarrer. Vertheilung von Gehaltszulagen an dieselben, die Disciplin über sie, fo daß eine Appellation von ihrem Spruche nicht möglich, sondern nur die Nullitätsklage vor dem höchsten Gerichtshofe zulässig erscheint, Aufsicht über ein Seminar für Elementarschullehrer, Beurtheilungen über die Synodalverhandlungen, auch Entscheidungen in Bezug auf einzelne Gegen¬ stände derselben, der Erlaß von Hirtenbriefen, eine alle zehn Jahre sich wie¬ derholende Revision des Kultus, genaue Aufsicht über die Kandidaten, diese Gebiete zu bearbeiten, bildet die Aufgabe der Kapitel und Bischöfe. Und welche Thätigkeit ist dem Staate zuerkannt? Er führt die Oberaufsicht durch einen Minister, der sich die Mitglieder seines Kirchenraths wählt und die Provinzialcommissarien und Synodalbevollmächtigten ernennt. Dieser Kirchen¬ rath hätte aus dreierlei Mitgliedern, Geistlichen, andern Gelehrten und Fi¬ nanzbeamten zu bestehen. Der Minister hat den Bischöfen im Kapitel nicht unmittelbar zu befehlen, sondern sie nur zu erinnern. Macht sich ein Bischof wesentlicher Vergehungen in seinem Amte schuldig, so wird er vom König in seinem Staatsrathe gerichtet. Wird eine Repräsentation des Volks in zwei Häusern errichtet, so könnten die Bischöfe, vielleicht auch die Stifts¬ dechanten, ihre Vertreter, ihren Sitz im obern Hause haben. Der erste Eindruck, den dieser Entwurf machen muß, ist gewiß eine Be¬ fremdung und Verwunderung darüber, daß der Mann, welcher so klar und deutlich die Gefahren der episkopalen Verfassung erkannt und ausgesprochen hat, sie hier dennoch befürwortet; daß der Feind jeglicher Hierarchie in die Hand des Clerus die höhere und höchste Leitung der Kirche legt; daß der Freund einer die mannichfachsten Gegensätze in sich schließenden Auffassung des Christenthums und Protestantismus an strenge kirchliche Bedingungen die Theilnahme an den kirchlichen Rechten knüpft. Ich will mich nicht darauf beziehen, daß der Unterschied der Zeiten hier in Betracht kommt, daß Schleier¬ macher früher anders als später geurtheilt hat. Obwohl dies richtig und zu berücksichtigen ist, dürfen wir doch nicht unterlassen, die Verbindung zwi¬ schen den früheren und späteren Urtheilen Schleiermacher's herzustellen. Es ist richtig, Schleiermacher hat auf dogmatischen Gebiet ein sehr großes Maß der Freiheit der individuellen Persönlichkeit eingeräumt, aber, wie er ein sehr scharfer und strenger Ethiker war, so hat er, der dankbare Zögling und im¬ mer warme Freund der Brüdergemeinde, die Bethätigung, die praktische Er¬ weisung des kirchlichen Lebens sehr hoch geachtet. Es ist richtig, er hat keine große Sympathien für den Episkopatismus gehegt, und doch hat die schwe¬ dische Verfassung der Kirche ihm Theilnahme eingeflößt. Und sollte sie gerade Grenzboten III. 1872. 63

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/497>, abgerufen am 22.12.2024.