Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.innere Ungleichheit unter den Gemeinden entstehen, da sich eine jede im Be¬ Es drängt sich ihm nun zuerst die Thatsache auf, daß es keine kirchliche innere Ungleichheit unter den Gemeinden entstehen, da sich eine jede im Be¬ Es drängt sich ihm nun zuerst die Thatsache auf, daß es keine kirchliche <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0483" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/128411"/> <p xml:id="ID_1637" prev="#ID_1636"> innere Ungleichheit unter den Gemeinden entstehen, da sich eine jede im Be¬<lb/> sitze neutestamentlicher Schriften befand. Erst als eine Wissenschaft nothwen¬<lb/> dig wurde, das Verständniß des Neuen Testaments und des kirchlichen Lebens<lb/> zu erschließen, mußten mehrere Gemeinden zusammentreten, um Bildungsan¬<lb/> stalten für die Geistlichen zu gründen. Sagt nun der Jndependentismus, ohne<lb/> die Freiheit der einzelnen Gemeinden zu beschränken, könnten ja durch freiwil¬<lb/> lige Geldbeiträge solche wissenschaftliche Institute geschaffen und erhalten wer¬<lb/> den, so erwidert Schleiermacher, daß ohne ein Kirchenregiment die Maßregeln<lb/> zur Erhaltung der Wissenschaftlichkeit nicht zu Stande kommen würden, weil<lb/> in Einigen die Ueberzeugung sehr schwach sei, so daß sie keine Art von Auf¬<lb/> opferung sich gefallen ließen zur Gründung und Pflege theologischer Akade¬<lb/> mien. Würden also, so müssen wir sagen, die Gemeinden eine größere, eine<lb/> allgemeine Opferwilligkeit zeigen, so würde dieser Grund zur Errichtung eines<lb/> Kirchenregiments hinfällig. Es bleibt aber ein innerer, tiefer liegender übrig.<lb/> Denken wir uns die Gemeinde isolirt, daß der Gemeingeist keinen andern Ge¬<lb/> genstand hätte als die einzelne Gemeinde, wo wäre das Princip in einer Ge¬<lb/> meinde stark genug, um den Einfluß der christlichen Religion aus das einzelne<lb/> und allgemeine Leben ungeschwächt zu erhalten? Aber selbst hier, müssen wir<lb/> sagen, ist der Jndependentismus nicht principiell überwunden, denn läßt sich<lb/> nicht denken, daß die einzelnen freien Gemeinden im lebendigen Austausch<lb/> ihrer geistigen und sittlichen Güter ein festes Band unter einander knüpften?<lb/> Daher denn Schleiermacher auf die Frage, weshalb die Reformatoren nicht<lb/> auf independentischer Grundlage die Kirche errichtet haben, antwortet, sie hatten<lb/> kein Zutrauen zu den Gemeinden, und daher diese Erörterung mit den Wor¬<lb/> ten schließt: Die evangelische Kirche könnte also bestehen ohne Kirchenregi¬<lb/> ment, aber bei einer weit mehr vorgeschrittenen Bildung der Masse und bei<lb/> größerem Gemeingeist, die solche Bildungsanstalten stifteten und unterhielten.<lb/> So lange aber dies nicht der Fall ist, so ist wenigstens das Kirchenregiment<lb/> ein nothwendiges Uebel, auch von independentischem Standpunkte aus. So<lb/> geht denn auch Schleiermacher, indem er sich zur Betrachtung der in der evan¬<lb/> gelischen Kirche bestehenden Regierungsformen wendet, von der vorläufigen<lb/> Voraussetzung aus, daß die Verbindung zwischen mehreren christlichen Gemein¬<lb/> den ursprünglich auf dem Princip der Gleichheit beruhe.</p><lb/> <p xml:id="ID_1638" next="#ID_1639"> Es drängt sich ihm nun zuerst die Thatsache auf, daß es keine kirchliche<lb/> Gestaltung des evangelischen Protestantismus giebt, welche die Grenzen eines<lb/> einzelnen Staates überschreitet. Der Grund liegt in den Anfängen der evan¬<lb/> gelischen Kirche. Wurden nämlich die Landesherren protestantisch, so übertrug<lb/> man ihnen die Leitung der Kirche, vertraute ihnen das Amt, welches bis da¬<lb/> hin die Bischöfe verwaltet hatten, nicht vermöge eines gesetzlichen Aktes, son¬<lb/> dern in formloser Weise, aber doch In Folge des Impulses der öffentlichen</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0483]
innere Ungleichheit unter den Gemeinden entstehen, da sich eine jede im Be¬
sitze neutestamentlicher Schriften befand. Erst als eine Wissenschaft nothwen¬
dig wurde, das Verständniß des Neuen Testaments und des kirchlichen Lebens
zu erschließen, mußten mehrere Gemeinden zusammentreten, um Bildungsan¬
stalten für die Geistlichen zu gründen. Sagt nun der Jndependentismus, ohne
die Freiheit der einzelnen Gemeinden zu beschränken, könnten ja durch freiwil¬
lige Geldbeiträge solche wissenschaftliche Institute geschaffen und erhalten wer¬
den, so erwidert Schleiermacher, daß ohne ein Kirchenregiment die Maßregeln
zur Erhaltung der Wissenschaftlichkeit nicht zu Stande kommen würden, weil
in Einigen die Ueberzeugung sehr schwach sei, so daß sie keine Art von Auf¬
opferung sich gefallen ließen zur Gründung und Pflege theologischer Akade¬
mien. Würden also, so müssen wir sagen, die Gemeinden eine größere, eine
allgemeine Opferwilligkeit zeigen, so würde dieser Grund zur Errichtung eines
Kirchenregiments hinfällig. Es bleibt aber ein innerer, tiefer liegender übrig.
Denken wir uns die Gemeinde isolirt, daß der Gemeingeist keinen andern Ge¬
genstand hätte als die einzelne Gemeinde, wo wäre das Princip in einer Ge¬
meinde stark genug, um den Einfluß der christlichen Religion aus das einzelne
und allgemeine Leben ungeschwächt zu erhalten? Aber selbst hier, müssen wir
sagen, ist der Jndependentismus nicht principiell überwunden, denn läßt sich
nicht denken, daß die einzelnen freien Gemeinden im lebendigen Austausch
ihrer geistigen und sittlichen Güter ein festes Band unter einander knüpften?
Daher denn Schleiermacher auf die Frage, weshalb die Reformatoren nicht
auf independentischer Grundlage die Kirche errichtet haben, antwortet, sie hatten
kein Zutrauen zu den Gemeinden, und daher diese Erörterung mit den Wor¬
ten schließt: Die evangelische Kirche könnte also bestehen ohne Kirchenregi¬
ment, aber bei einer weit mehr vorgeschrittenen Bildung der Masse und bei
größerem Gemeingeist, die solche Bildungsanstalten stifteten und unterhielten.
So lange aber dies nicht der Fall ist, so ist wenigstens das Kirchenregiment
ein nothwendiges Uebel, auch von independentischem Standpunkte aus. So
geht denn auch Schleiermacher, indem er sich zur Betrachtung der in der evan¬
gelischen Kirche bestehenden Regierungsformen wendet, von der vorläufigen
Voraussetzung aus, daß die Verbindung zwischen mehreren christlichen Gemein¬
den ursprünglich auf dem Princip der Gleichheit beruhe.
Es drängt sich ihm nun zuerst die Thatsache auf, daß es keine kirchliche
Gestaltung des evangelischen Protestantismus giebt, welche die Grenzen eines
einzelnen Staates überschreitet. Der Grund liegt in den Anfängen der evan¬
gelischen Kirche. Wurden nämlich die Landesherren protestantisch, so übertrug
man ihnen die Leitung der Kirche, vertraute ihnen das Amt, welches bis da¬
hin die Bischöfe verwaltet hatten, nicht vermöge eines gesetzlichen Aktes, son¬
dern in formloser Weise, aber doch In Folge des Impulses der öffentlichen
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