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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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Verfassung beleuchten, den Schleiermacher 1808 dem Ministerium eingereicht
und Richter im Isten Bande der Dove'schen Zeitschrift für Kirchenrecht ver¬
öffentlicht hat.

Schleiermacher wirft zuerst die Frage auf, aus welchen Bedürfnissen das
Kirchenregiment erwachse, welchen Sinn, welche Bedeutung es darstelle, und
beantwortet sie, indem er den Gegensatz der einzelnen Gemeinde und der ge-
sammten Kirche vergegenwärtigt. "Eine einzelne Gemeinde hat noch nicht
persönlich den heiligen Geist, noch spricht sich in ihr nicht das ganze christliche
Princip aus, sondern der göttliche Geist ist das Princip der Einheit der
Kirche im höchsten Sinne." -- Daher ist "der vermittelte Zusammenhang des
einzelnen mit der Einheit der Kirche die eigentliche Idee des Kirchenregimen¬
tes". Dem entspricht auch die geschichtliche Entwicklung, denn wenn auch das
Christenthum in der Form einzelner Gemeinden erschienen ist, so sehen wir
doch von vorn herein die Centralgemeinde in Jerusalem darauf bedacht, diese
Gemeinden mit sich in Verbindung zu bringen. Diese geschichtliche Entwick¬
lung, wie sie sich dem Wesen des christlichen Princips entsprechend gestaltet
hat, scheint nur von der Theorie der Independenten verkannt zu werden, und
da letztere sich einmal in der evangelischen Kirche gebildet hat, hält sich
Schleiermacher für verpflichtet, sich mit ihr aus einander zu setzen. Diese
Auseinandersetzung ist um so anziehender, als Schleiermacher eigentlich sehr
starke Sympathien für den Jndependentismus hegt, den er daher nicht sowohl
principiell bekämpft, als vielmehr in seiner praktischen Consequenz beschränkt.
Noch einmal blickt er auf den Zusammenhang der Gemeinden im apostolischen
Zeitalter, und das Bild, das sich ihm zeigt, scheint aus zwei Gruppen zu¬
sammengesetzt zu sein. Er nimmt einmal einen Zusammenhang wahr, der
sich von jedem relativen Centralpunkt in seiner Peripherie entwickelt, durch
den Einfluß einer Metropolis auf die umliegenden Gemeinden bedingt, dann
aber ein Streben von allen Punkten aus einen Centralpunkt zu bilden, in
Folge des Bedürfnisses allgemein gültige Maßregeln zu treffen, eine Gemein¬
schaft zwischen allen christlichen Gemeinden herzustellen. Der Jndependentis¬
mus braucht diese Thatsachen aber nicht zu läugnen, denn jene Abhängigkeit
von den Metropolen erklärt er daraus, daß die abhängigen Gemeinden eben
erst im Werden begriffen seien und noch nicht zu vollkommner Selbstständigkeit
gelangt, den Zusammenschluß selbstständiger Gemeinden aber betrachtet er als
eine Reihe freier und einzelner Handlungen der Gemeinden, die besonderen
Bedürfnissen genügen und keine Verpflichtung für die Folge in sich schließen.
Wann mußten nun die Gemeinden ihre Selbstständigkeit einbüßen? In der
apostolischen Zeit war eine Gemeinde der andern gleich, jede besaß eine evan¬
gelische Ueberlieferung, welche durch die Verkündigung der Apostel oder ihrer
Gehilfen entstanden war. Und auch nach dem Tode der Apostel konnte keine


Verfassung beleuchten, den Schleiermacher 1808 dem Ministerium eingereicht
und Richter im Isten Bande der Dove'schen Zeitschrift für Kirchenrecht ver¬
öffentlicht hat.

Schleiermacher wirft zuerst die Frage auf, aus welchen Bedürfnissen das
Kirchenregiment erwachse, welchen Sinn, welche Bedeutung es darstelle, und
beantwortet sie, indem er den Gegensatz der einzelnen Gemeinde und der ge-
sammten Kirche vergegenwärtigt. „Eine einzelne Gemeinde hat noch nicht
persönlich den heiligen Geist, noch spricht sich in ihr nicht das ganze christliche
Princip aus, sondern der göttliche Geist ist das Princip der Einheit der
Kirche im höchsten Sinne." — Daher ist „der vermittelte Zusammenhang des
einzelnen mit der Einheit der Kirche die eigentliche Idee des Kirchenregimen¬
tes". Dem entspricht auch die geschichtliche Entwicklung, denn wenn auch das
Christenthum in der Form einzelner Gemeinden erschienen ist, so sehen wir
doch von vorn herein die Centralgemeinde in Jerusalem darauf bedacht, diese
Gemeinden mit sich in Verbindung zu bringen. Diese geschichtliche Entwick¬
lung, wie sie sich dem Wesen des christlichen Princips entsprechend gestaltet
hat, scheint nur von der Theorie der Independenten verkannt zu werden, und
da letztere sich einmal in der evangelischen Kirche gebildet hat, hält sich
Schleiermacher für verpflichtet, sich mit ihr aus einander zu setzen. Diese
Auseinandersetzung ist um so anziehender, als Schleiermacher eigentlich sehr
starke Sympathien für den Jndependentismus hegt, den er daher nicht sowohl
principiell bekämpft, als vielmehr in seiner praktischen Consequenz beschränkt.
Noch einmal blickt er auf den Zusammenhang der Gemeinden im apostolischen
Zeitalter, und das Bild, das sich ihm zeigt, scheint aus zwei Gruppen zu¬
sammengesetzt zu sein. Er nimmt einmal einen Zusammenhang wahr, der
sich von jedem relativen Centralpunkt in seiner Peripherie entwickelt, durch
den Einfluß einer Metropolis auf die umliegenden Gemeinden bedingt, dann
aber ein Streben von allen Punkten aus einen Centralpunkt zu bilden, in
Folge des Bedürfnisses allgemein gültige Maßregeln zu treffen, eine Gemein¬
schaft zwischen allen christlichen Gemeinden herzustellen. Der Jndependentis¬
mus braucht diese Thatsachen aber nicht zu läugnen, denn jene Abhängigkeit
von den Metropolen erklärt er daraus, daß die abhängigen Gemeinden eben
erst im Werden begriffen seien und noch nicht zu vollkommner Selbstständigkeit
gelangt, den Zusammenschluß selbstständiger Gemeinden aber betrachtet er als
eine Reihe freier und einzelner Handlungen der Gemeinden, die besonderen
Bedürfnissen genügen und keine Verpflichtung für die Folge in sich schließen.
Wann mußten nun die Gemeinden ihre Selbstständigkeit einbüßen? In der
apostolischen Zeit war eine Gemeinde der andern gleich, jede besaß eine evan¬
gelische Ueberlieferung, welche durch die Verkündigung der Apostel oder ihrer
Gehilfen entstanden war. Und auch nach dem Tode der Apostel konnte keine


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[0482] Verfassung beleuchten, den Schleiermacher 1808 dem Ministerium eingereicht und Richter im Isten Bande der Dove'schen Zeitschrift für Kirchenrecht ver¬ öffentlicht hat. Schleiermacher wirft zuerst die Frage auf, aus welchen Bedürfnissen das Kirchenregiment erwachse, welchen Sinn, welche Bedeutung es darstelle, und beantwortet sie, indem er den Gegensatz der einzelnen Gemeinde und der ge- sammten Kirche vergegenwärtigt. „Eine einzelne Gemeinde hat noch nicht persönlich den heiligen Geist, noch spricht sich in ihr nicht das ganze christliche Princip aus, sondern der göttliche Geist ist das Princip der Einheit der Kirche im höchsten Sinne." — Daher ist „der vermittelte Zusammenhang des einzelnen mit der Einheit der Kirche die eigentliche Idee des Kirchenregimen¬ tes". Dem entspricht auch die geschichtliche Entwicklung, denn wenn auch das Christenthum in der Form einzelner Gemeinden erschienen ist, so sehen wir doch von vorn herein die Centralgemeinde in Jerusalem darauf bedacht, diese Gemeinden mit sich in Verbindung zu bringen. Diese geschichtliche Entwick¬ lung, wie sie sich dem Wesen des christlichen Princips entsprechend gestaltet hat, scheint nur von der Theorie der Independenten verkannt zu werden, und da letztere sich einmal in der evangelischen Kirche gebildet hat, hält sich Schleiermacher für verpflichtet, sich mit ihr aus einander zu setzen. Diese Auseinandersetzung ist um so anziehender, als Schleiermacher eigentlich sehr starke Sympathien für den Jndependentismus hegt, den er daher nicht sowohl principiell bekämpft, als vielmehr in seiner praktischen Consequenz beschränkt. Noch einmal blickt er auf den Zusammenhang der Gemeinden im apostolischen Zeitalter, und das Bild, das sich ihm zeigt, scheint aus zwei Gruppen zu¬ sammengesetzt zu sein. Er nimmt einmal einen Zusammenhang wahr, der sich von jedem relativen Centralpunkt in seiner Peripherie entwickelt, durch den Einfluß einer Metropolis auf die umliegenden Gemeinden bedingt, dann aber ein Streben von allen Punkten aus einen Centralpunkt zu bilden, in Folge des Bedürfnisses allgemein gültige Maßregeln zu treffen, eine Gemein¬ schaft zwischen allen christlichen Gemeinden herzustellen. Der Jndependentis¬ mus braucht diese Thatsachen aber nicht zu läugnen, denn jene Abhängigkeit von den Metropolen erklärt er daraus, daß die abhängigen Gemeinden eben erst im Werden begriffen seien und noch nicht zu vollkommner Selbstständigkeit gelangt, den Zusammenschluß selbstständiger Gemeinden aber betrachtet er als eine Reihe freier und einzelner Handlungen der Gemeinden, die besonderen Bedürfnissen genügen und keine Verpflichtung für die Folge in sich schließen. Wann mußten nun die Gemeinden ihre Selbstständigkeit einbüßen? In der apostolischen Zeit war eine Gemeinde der andern gleich, jede besaß eine evan¬ gelische Ueberlieferung, welche durch die Verkündigung der Apostel oder ihrer Gehilfen entstanden war. Und auch nach dem Tode der Apostel konnte keine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/482>, abgerufen am 29.06.2024.