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Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band.

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bestand aus ungefähr sechs sehr dicken Aktenbänden, von denen mir die ersten
schon äußerlich sehr bekannt vorkamen. Ein Blick auf das Aktenrubrum des
Umschlages bestätigte mir, daß ich "meinen" Brandstifter jetzt in zweiter In¬
stanz aburtheilen sollte, den ich vor Jahren als wirklicher geheimer Jnquisi-
tionsrichter vorgehabt hatte. Die erste Instanz hatte ihn zum Tode verur¬
theilt, wie nach Landrecht auch geschehen mußte, da durch seine Brandstiftun¬
gen, wie gesagt, viele Menschen umgekommen waren. Indessen, nachdem ich
die Acten genauer studirt hatte, gelangte ich zu dem Ergebniß, daß das Er¬
kenntniß erster Instanz wegen mehrfacher Formfehler zu cassiren sei. Das
Spruchcollegium, in dem ich nur eine Ansicht, aber keine Stimme hatte, pflich¬
tete diesem Antrage seines bescheidenen Referendars bei und cassirte das Ur¬
theil. Mein Brandstifter wurde nun zu lebenslänglichem Zuchthaus verur¬
theilt und -- wie das Gesetz vorschrieb -- zu "Staupenschlag". Der
Criminalsenat des Kammergerichts zu Berlin bestätigte dieses Erkenntniß, ein¬
schließlich des Staupenschlags, und auch die königliche Bestätigung blieb
nicht aus.

Bon diesen letzten Entscheidungen und Stadien dieses Processes habe ich
indessen auch erst später erfahren. Ich war nämlich inzwischen als selbstän¬
diger Richter an das Gericht in Breslau, bei dem ich meine glorreiche Lauf¬
bahn begonnen hatte, wieder zurückversetzt worden, und erblickte unter den mit
meiner Amtsführung übernommenen Gefangenen richtig meinen Brandstifter,
gegen den ich vor ungefähr sechs Jahren den feierlichen, alten Jnquisitions-
proceß begonnen hatte. Die verbrannten Dörfer waren inzwischen alle wieder
erstanden, über den Gräbern der armen Opfer lag jetzt im Winter 1831 auf
1832 eine dichte Schneedecke. Die Erinnerung an die Unthaten waren im
Volk längst zu einer Art von Sage geworden. Nur die Justiz hatte nicht
vergeben und vergessen; noch immer harrte der Verbrecher des letzten
Spruches.

In den ersten Tagen des Jahres 1832 kam dieser Spruch. Ich hatte
ihn zu vollstrecken. Ich verkündete ihn dem Verurtheilten: "Lebenslängliches
Zuchthaus und Staupenschlag." Das erstere schien ihm vollständig ange-
messen, aber beim "Staupenschlag" stutzte er. "Herr Referendar," sagte er
-- in seinen Augen hatte ich noch keine Carriere gemacht -- "Staupenschlag?
was ist denn das?" -- "Das wirst Du schon sehen," erwiderte ich sehr gelassen,
denn ich dachte mir weiter nichts darunter, als eine besondere Art Hiebe, über
die sich in allen Strafrechtsbüchern und gelehrten Werken die ausführlichste
Beschreibung würde finden lassen. Und zudem mutzte ja diese Strafe, ob¬
wohl ich in meiner Praxis niemals sie hatte appliciren sehen, jedenfalls dem
Profoßen des Gefängnisses und schlimmsten Falls dem Scharfrichter äußerst be¬
kannt sein; denn sonst würden doch die hohen Gerichte, welche dieses Straf-


bestand aus ungefähr sechs sehr dicken Aktenbänden, von denen mir die ersten
schon äußerlich sehr bekannt vorkamen. Ein Blick auf das Aktenrubrum des
Umschlages bestätigte mir, daß ich „meinen" Brandstifter jetzt in zweiter In¬
stanz aburtheilen sollte, den ich vor Jahren als wirklicher geheimer Jnquisi-
tionsrichter vorgehabt hatte. Die erste Instanz hatte ihn zum Tode verur¬
theilt, wie nach Landrecht auch geschehen mußte, da durch seine Brandstiftun¬
gen, wie gesagt, viele Menschen umgekommen waren. Indessen, nachdem ich
die Acten genauer studirt hatte, gelangte ich zu dem Ergebniß, daß das Er¬
kenntniß erster Instanz wegen mehrfacher Formfehler zu cassiren sei. Das
Spruchcollegium, in dem ich nur eine Ansicht, aber keine Stimme hatte, pflich¬
tete diesem Antrage seines bescheidenen Referendars bei und cassirte das Ur¬
theil. Mein Brandstifter wurde nun zu lebenslänglichem Zuchthaus verur¬
theilt und — wie das Gesetz vorschrieb — zu „Staupenschlag". Der
Criminalsenat des Kammergerichts zu Berlin bestätigte dieses Erkenntniß, ein¬
schließlich des Staupenschlags, und auch die königliche Bestätigung blieb
nicht aus.

Bon diesen letzten Entscheidungen und Stadien dieses Processes habe ich
indessen auch erst später erfahren. Ich war nämlich inzwischen als selbstän¬
diger Richter an das Gericht in Breslau, bei dem ich meine glorreiche Lauf¬
bahn begonnen hatte, wieder zurückversetzt worden, und erblickte unter den mit
meiner Amtsführung übernommenen Gefangenen richtig meinen Brandstifter,
gegen den ich vor ungefähr sechs Jahren den feierlichen, alten Jnquisitions-
proceß begonnen hatte. Die verbrannten Dörfer waren inzwischen alle wieder
erstanden, über den Gräbern der armen Opfer lag jetzt im Winter 1831 auf
1832 eine dichte Schneedecke. Die Erinnerung an die Unthaten waren im
Volk längst zu einer Art von Sage geworden. Nur die Justiz hatte nicht
vergeben und vergessen; noch immer harrte der Verbrecher des letzten
Spruches.

In den ersten Tagen des Jahres 1832 kam dieser Spruch. Ich hatte
ihn zu vollstrecken. Ich verkündete ihn dem Verurtheilten: „Lebenslängliches
Zuchthaus und Staupenschlag." Das erstere schien ihm vollständig ange-
messen, aber beim „Staupenschlag" stutzte er. „Herr Referendar," sagte er
— in seinen Augen hatte ich noch keine Carriere gemacht — „Staupenschlag?
was ist denn das?" — „Das wirst Du schon sehen," erwiderte ich sehr gelassen,
denn ich dachte mir weiter nichts darunter, als eine besondere Art Hiebe, über
die sich in allen Strafrechtsbüchern und gelehrten Werken die ausführlichste
Beschreibung würde finden lassen. Und zudem mutzte ja diese Strafe, ob¬
wohl ich in meiner Praxis niemals sie hatte appliciren sehen, jedenfalls dem
Profoßen des Gefängnisses und schlimmsten Falls dem Scharfrichter äußerst be¬
kannt sein; denn sonst würden doch die hohen Gerichte, welche dieses Straf-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 31, 1872, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341815_127927/468>, abgerufen am 01.07.2024.